Jeder sollte sich täglich eine anständige Portion Wollust gönnen
Noch nie war es so leicht, der Wollust zu frönen wie heute. Die meisten suchen sie aber nur noch – und genießen sie nicht mehr.
Mit der Suche nach Rezepten im Internet ist es so eine Sache: Man verirrt sich allzu schnell im Überfluss schlecht zusammengetragener InfoHäppchen. Und ist man erst auf einer appetitanregenden Seite gelandet, dann geht man meistens der Convenience-Industrie ins Netz.
Sie können im Internet auch nach Kochbüchern suchen. Allein bei Amazon stehen 113.490 Titel zur Auswahl. Dem Vernehmen nach gehen die weg wie die heißen Semmeln. Nur warum weiß dann trotzdem kaum wer, wie man heiße Semmeln macht? Immerhin hat sich inzwischen eine Befürchtung des Reichsverbands der Zuckerbäcker Österreichs aus dem Jahr 1934 aufgelöst. Diese Vereinigung lief damals Sturm gegen eine Kochsendung von Franz Ruhm. Im Zentralorgan der Zuckerbäcker war zu lesen: Sie (die Vorträge, Anm.) haben ihre Wirkung bereits getan, denn viele Hausfrauen erzeugen heute schon eine Anzahl von Konditoreiartikeln. Früher wurden gute Rezepte also noch wie Geheimwissen gehütet. Es heißt sogar, die Gebrüder Grimm hätten das Märchen „Hänsel und Gretel“nur deshalb unters Volk gebracht, weil sich die Frauen damals beharrlich weigerten, ihre Lebkuchenrezepte preiszugeben. Da erhoben die beiden Volkskundler ihre Feder und – potz Blitz – schon stand die Frau als Kinder fressende Hexe da.
Wir lernen: Wer sich vom Pöbel abgrenzen will, der prahlt mit feinen Speisen. Das war schon bei den alten Römern so und das ist auch heute im Haubenrestaurant nicht anders. Zur Meisterschaft brachten es dabei Adel und Klerus aber im Spätmittelalter. Damals hatte das einfache Volk so gut wie gar keine Ahnung vom Kochen. Die Küchen der Herrscher galten als kulinarische Sperrbezirke, in denen bereits Köstlichkeiten wie blanc manger vom Kapaun, Ente in Pflaumen oder hochepot vom Huhn zubereitet wurden. Da konnte der Pöbel nur zusehen. Bis sich der Mediziner Platina 1475 im Vatikan ein Herz fasste und dank der Erfindung des Buchdrucks den ersten KochbuchBestseller vorlegte. Sein Werk trug den Titel De Honesta Voluptate (dt.: „Von der anständigen Wollüstigkeit“). Das gefiel dem Papst gar nicht. Dieser war auch sauer, dass Platina in einer Papst-Chronik behauptete, dass es sich beim Papst Johannes VII. um eine Päpstin handelte. Warum Platina nun aber genau exkommuniziert wurde, darüber wird noch heute diskutiert. Eines wissen wir sicher: Restaurant führte Platina sicher keines. Solche gab es erst nach der Französischen Revolution. Damals standen die Köche der Herrschenden plötzlich auf der Straße, wo sie maisons restaurants (dt.: „stärkende Häuser“) erfanden. Kochen hat also viel mit Freiheit und Selbstverwirklichung zu tun. Und diese Freiheit sucht man nicht: Wir sollten sie uns täglich nehmen.