„Es geht nicht ohne EU-Finanzminister“
Eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik könnte die Geburtsfehler des Euro beheben. Aber wie soll mehr Macht für Brüssel politisch durchgesetzt werden? Wo kann das Vertrauen dafür wachsen?
Die Salzburger Politikwissenschafterin Sonja Puntscher-Riekmann analysiert im SN-Gespräch die Kompetenz- und Demokratiedefizite der Europäischen Union. SN: Warum wird die EU so krisenhaft und gespalten erlebt? Puntscher-Riekmann: Man kann nicht die EU ohnmächtig belassen in entscheidenden Bereichen und zugleich Lösungen von ihr erwarten. Konkret: Ohne stärkere Zentralisierung der Fiskalpolitik sind die Probleme der Wirtschafts- und Währungsunion nicht zu lösen. Aber all das bedarf einer neuen Verfassungsdebatte. SN: Das heißt, wir brauchen einen europäischen Finanzminister und EU-Steuern? Eine Zentralisierung der Geldpolitik kann nicht funktionieren, wenn die fiskalischen und sozialen Kompetenzen Sache der Mitgliedsstaaten bleiben. Dafür bräuchten wir einen europäischen Finanzminister und allenfalls europäische Steuern – wobei sofort zu sagen ist, dass man neue Steuern nicht auf vorhandene draufdoppeln kann. Es sind aber Ausgleichszahlungen nötig, wenn die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedsstaaten aus der Balance gerät. Dafür ist das derzeitige Budget der EU viel zu klein.
Sogar die sehr liberalen Vereinigten Staaten von Amerika haben sich darauf verständigt, dass es einen Ausgleich zwischen den stärkeren und schwächeren Gliedstaaten geben muss. Das haben sie mit der Finanzkrise 1929 begriffen. Daher gibt es jetzt eine Arbeitslosenversicherung für alle US-Bundesstaaten. Das wäre auch für die EU ein Ansatz: eine europäische Arbeitslosenversicherung, die etwa auf zwölf Monate begrenzt sein könnte. SN: Die EU hatte verbindliche Budgetregeln. Die haben Frankreich und Deutschland als Erste gebrochen. Ausgerechnet sie sollen jetzt die EU retten. Frankreich und Deutschland haben in dieser Frage tatsächlich ein denkbar schlechtes Beispiel gegeben. Es war im Übrigen auch kein Geheimnis, dass Griechenland seine Budgetzahlen gefälscht hatte. Das wussten alle, die es wissen wollten. Aber alle Warnungen wurden in den Wind geschlagen. SN: Die Forderung nach mehr Kompetenzen für Brüssel kommt daher bei den EU-Bürgerinnen und -Bürgern schlecht an. Viele Bürgerinnen und Bürger der EU haben den Eindruck, dass es ein schwarzes Loch gibt, dass sie über die Vorgänge in Brüssel weder etwas erfahren noch dass sie darauf Einfluss haben. SN: Dazu kommt die Erfahrung: Am Ende schützt mich nur mein Nationalstaat, sei es in der Flüchtlingskrise oder bei sozialen Leistungen. In der Flüchtlingskrise hätte die EU viel mehr tun können, aber die Mitgliedsstaaten wollten keine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Das ist das ständige böse Spiel, das die Mitgliedsstaaten treiben: die EU für alles schuldig zu sprechen, aber die eigene Verantwortung nicht zu sehen. Deshalb haben die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck, dass sie nur der Nationalstaat schützt. SN: Muss es in der EU ein Mehrheitsrecht geben? Mehrheitsrechte gibt es auch jetzt schon. Diese auf weitere Bereiche auszudehnen ist aber nur unter der Voraussetzung einer ganz anderen Demokratisierung der Europäischen Union legitimierbar. Das Parlament muss gestärkt werden, der EU-Rat und der Europäische Rat müssen dem Parlament verantwortlich sein und alle EU-Abgeordneten müssen sich vor ihren Wählerinnen und Wählern verantworten. Demokratie heißt Entscheidungen rechtfertigen. Das gilt besonders in der Fiskalpolitik: Keine Steuern ohne gewählte politische Vertretung. Das ist eine klassische politische Legitimationsfrage. SN: Was müssen Angela Merkel und Emmanuel Macron tun? Entscheidend wird sein, wie die extrem EU-kritische AfD bei der deutschen Wahl abschneidet. Auch die EU-Skepsis in Frankreich ist mit dem Sieg Macrons nicht aufgelöst.
Was die wesentlichen Weichenstellungen betrifft, gibt es bei Macron mehr als bei Merkel die Idee, die Fiskalpolitik stärker zu zentralisieren, unter anderem durch ein deutlich höheres EU-Budget. Der nächste Schritt wären dann die sogenannten Eurobonds. Aber zum ersten Mal seit Langem schließt auch Merkel eine Vertragsänderung nicht mehr aus und hat nach dem G7-Gipfel von der Notwendigkeit gesprochen, das Schicksal Europas in die eigene Hand zu nehmen. SN: Das heißt, dass der Norden für den Süden zahlt. Halten Sie das für unverlässlich? Ausgleichszahlungen sind bei einer gemeinsamen Währung unerlässlich. Aber was heißt „der Norden zahlt für den Süden“? Italien ist ein Nettozahler in der EU. Italien hat zwar eine sehr hohe Verschuldung, aber das wird nur dann zum Problem, wenn sich ein Staat so wie Griechenland nicht mehr auf den Finanzmärkten refinanzieren kann.
Richtig ist, dass der Süden ein Produktivitätsproblem hat. Die europäischen Staaten haben seit 1945 sehr unterschiedliche Formen von Kapitalismus aufgebaut. Dem Norden kommt zugute, dass es strukturierte Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt. Das sind hilfreiche Balancierungs-Akteure. Dagegen sind in Frankreich oder Italien die Gewerkschaften wie die Arbeitgeber sehr zersplittert. Das erschwert den Konsens über Löhne, Arbeitslosengeld oder Pensionen.
In Frankreich wird es sehr große Überzeugungskraft brauchen, um die 35-Stunden-Woche rückgängig zu machen und das Pensionsalter um zwei Jahre zu erhöhen. SN: Viele Menschen haben den Eindruck, in der EU geht es immer wieder um den Abbau von Sozialleistungen. Die sogenannte Troika hat in Griechenland tatsächlich bis ins Detail hineinregiert und Sozialleistungen abgebaut. Das hat das Misstrauen zwischen Nord und Süd extrem gesteigert. Verschärfend kam dann die Flüchtlingskrise dazu.
Es braucht auch eine andere Form der Kommunikation, die nicht ohne die nationalen Parlamente möglich ist. Zwei Kollegen haben die österreichischen Parlamentarierinnen und Parlamentarier befragt, wie sie die Europapolitik mit ihren Wählerinnen und Wählern kommunizieren. Die Antwort war: Das ist nicht unsere Aufgabe, das muss das EU-Parlament machen.
Das EU-Parlament kann das aber nicht allein schaffen. Wir brauchen auch Kommunikatoren der EU-Politik in den Mitgliedsstaaten. Und Debatten, aus denen zu erkennen ist, was die Menschen bereit sind, an die EU abzugeben, und was nicht. SN: Wie viel Macht muss nach Brüssel abgegeben werden? Notwendig ist neben einem europäischen Finanzminister mit Durchgriffs- und Kontrollrechten ein EU-Parlament, das diesem Finanzminister als Kontrollorgan gegenübersteht. Es braucht gemeinsame Mindeststandards in allen Sozialbereichen. Und es ist eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik erforderlich, vor allem im Sinne einer Nachbarschaftspolitik, die zur Stabilisierung der Umgebung Europas in Nahost und in Afrika beiträgt. Dazu braucht es auch einen europäischen Außenminister.