Wenn TV brutale Realität wird
Seit Wochen steht eine Fernsehserie im Kreuzfeuer der Kritik: „13 Reasons Why“soll Schüler zu Selbstmordversuchen animieren. Welche Auswirkungen Serien auf Jugendliche haben können.
SALZBURG. Hannah Baker hat sich umgebracht. Es war kein spontaner Selbstmord, sondern ein Vorhaben, das sie wochenlang geplant hat. Nach dem Tod der Schülerin erhalten Menschen aus ihrem Umfeld sieben Audiokassetten, auf denen Hannah 13 Gründe für ihren Selbstmord nennt – und den Personen unverhohlen die Schuld dafür gibt. Die Serie „13 Reasons Why“, auf Deutsch „Tote Mädchen lügen nicht“, gipfelt in einer letzten Rückblende, in der sich Hannah brutal die Pulsadern aufschneidet.
Ende März wurde Staffel eins der Buchverfilmung über die OnlineVideothek Netflix lanciert. Schon kurz nach der Veröffentlichung warnten Jugendorganisationen davor, sich die Serie anzuschauen. Sie könne psychische Probleme hervorrufen. Und in der Tat: Schon wenig später wurden erste Fälle von Schülern bekannt, die sich selbst verletzten – und dabei Hannah Baker als Vorbild angaben. Vor wenigen Wochen schwappten die Folgen der Serie, die auch auf Deutsch ausgestrahlt wird, offenbar nach Österreich. Wie mehrere Medien berichteten, sollen zwei Mädchen an einer oberösterreichischen Schule versucht haben, sich in Anlehnung an die Serie umzubringen. Die 13-Jährigen überlebten den Versuch.
Kann eine Fernsehserie wirklich derartige Auswirkungen haben? Ja, sagen gleich mehrere amerikanische Psychologen – und warnten vor der Serie. Die australische Gesundheitsorganisation Headspace gab zu Protokoll, dass es auffällig viele E-Mails gegeben haben soll, die sich auf die Serie bezogen haben. Österreichische Beratungsstellen wie „Rat auf Draht“konnten ähnliche Folgen auf SN-Anfrage nicht bestätigen. Und auch Ingrid Paus-Hasebrink will weder die Effekte von „Tote Mädchen lügen nicht“noch TV-Serien allgemein pauschalieren: Die Auswirkungen könnten von Person zu Person völlig unterschiedlich sein. Paus-Hasebrink leitet die Abteilung für Audiovisuelle und Online-Kommunikation an der Uni Salzburg, vor Kurzem schloss sie eine zwölfjährige Studie zur Rolle von Medien in der Sozialisation von Heranwachsenden aus sozial benachteiligten Familien ab. „Freilich können Serien zu parasozialer Interaktion führen (ein Beziehungsaufbau zu medialen Rollen, Anm.)“, sagt Paus-Hasebrink. Dennoch will sie Serien, die tragische Schicksale von Jugendlichen in den Mittelpunkt rücken, nicht vorverurteilt wissen. Jugendliche hätten es „sehr wohl verdient“, dass ihre Probleme angesprochen würden. Und ebendas hält die Expertin auch „Tote Mädchen lügen nicht“zugute: „Es ist sehr, sehr positiv, dass Themen wie Mobbing fesselnd und anspruchsvoll angesprochen werden.“Doch ebendiese Komplexität könnte den einen oder anderen überfordern. Die Serie erfordere eine hohe Medienkompetenz, der wohl nicht alle Zuschauer gewachsen seien. Der Serien-Selbstmord vermittle etwa die unterschwellige Botschaft, dass man mit einem heroischen Tod mehr bewegen könne als mit einem unglücklichen Leben. Dies sei eine Konstruktion, „die nicht problematisch sein muss, aber sehr wohl kann“. Und Paus-Hasebrink macht noch ein Problem fest. Da Hannah Baker ihre Botschaften auf Kassette und nicht digital verteilt, werde implizit der Vorwurf erhoben, dass die böse Mobbing-Zeit jene des Internets sei. „Dabei gibt es Mobbing schon viel länger.“Die blutige Darstellung des Selbstmords stört PausHasebrink hingegen weniger: „Da kriegt man schon im ,Tatort‘ ganz andere Dinge zu sehen.“
Wie soll man nun aber mit Serien wie „Tote Mädchen lügen nicht“umgehen? Als Jugendlicher, aber auch Eltern oder Lehrer? Manche kanadische Schulen entschlossen sich, den Mehrteiler zu verbieten, in Neuseeland dürfen Minderjährige die Serie nur noch im Beisein eines Erziehungsberechtigten sehen. Beide Ansätze hält Paus-Hasebrink schlicht für „Blödsinn“. Verbote würden nur den Reiz der Serie steigern und die neuseeländische Verordnung sei operativ nicht durchsetzbar. „Als Elternteil würde ich am Frühstückstisch fallen lassen, dass es da diese Serie geben soll – und meine Tochter oder meinen Sohn um eine Meinung bitten.“Da- durch könne man einschätzen, ob und wie der Nachwuchs auf den Mehrteiler reagiere. Danach könne man Maßnahmen setzen. Eine Möglichkeit sei etwa ein Abend, an dem man sich die Serie gemeinsam anschaut – und darüber spricht. Das Gespräch sei sowieso das Um und Auf. „Sie dürfen nicht von oben herab einwirken, das macht es schlimmer. Sie müssen sich die Mühe machen, in die Welt von Jugendlichen hineinzugehen – und Nähe aufbauen.“Und allgemein rät Paus-Hasebrink zu Sensibilität: „Schau in das Gesicht des anderen, auch wenn es unbequem ist.“Und wie hätten die Serienmacher die Handlung besser darstellen können? Paus-Hasebrink hätte die Geschichte anders aufgezogen: „Ich wäre nicht direkt vom Selbstmord des Mädchens ausgegangen.“Dann hätte man die Darstellerin noch stärker Lösungsansätze für ihr Dilemma finden lassen können.
Die Diskussion um Serien wie „Tote Mädchen lügen nicht“wird in jedem Fall bestehen bleiben: Erst vor Kurzem kündigte Netflix an, 2018 Staffel zwei ausstrahlen zu wollen.
„Schau in das Gesicht des anderen.“ I. Paus-Hasebrink, Medienexpertin