Der Fortschritt braucht Leitplanken und Bremsen
Oft hinkt die Ethik der Technik nach. Beim autonomen Fahren hat eine Ethikkommission jetzt frühzeitig „Achtung!“gerufen.
Mit einer Bedenkzeit ist schon viel erreicht
Mit einer höchst bemerkenswerten Expertise hat eine Ethikkommission in Deutschland diese Woche 20 Regeln für das autonome Fahren aufgestellt. Darin wird unter anderem vor einer totalen Überwachung der Verkehrsteilnehmer gewarnt. Ebenso müsse bei unausweichlichen Unfällen jede Qualifizierung der Betroffenen ausgeschlossen sein. Algorithmen im Bordcomputer dürften also nicht so ausgelegt sein, dass im Konfliktfall eher der 70-jährige herzkranke Mann in Auto A als die 22-jährige Mutter in Auto B sterben soll.
Man mag solche Überlegung noch als weit hergeholt betrachten. Doch die technische Entwicklung ist rasant und autonom fahrende Autos wären nicht der erste Fall, dass der Fortschritt den Menschen überrollt und erst nach bösen Erfahrungen nachgebessert wird.
Beispiel Atomkraft: Da haben die wirtschaftlichen Interessen so massiv überwogen, dass alle berechtigten Bedenken in den Wind geschlagen wurden. Frei nach dem Motto: Wir wissen zwar nicht, wohin mit dem Atommüll und welche Gefahren dieser für spätere Generationen heraufbeschwört, aber „irgendwie“wird sich das Problem schon lösen.
Gleiches betrifft die Forschung an Embryonen, die bei der künstlichen Befruchtung übrig bleiben. Seit September 2016 darf in Großbritannien in das Erbgut solcher befruchteter Eizellen eingegriffen werden. Ein Argument dafür war, dass chinesische Wissenschafter das bis dahin geltende Tabu bereits 2015 gebrochen hatten.
Noch besteht unter Genetikern weltweit ein Konsens, dass ein genetisch veränderter Embryo nicht in eine Gebärmutter eingesetzt werden darf. Noch geht es nur um die Forschung, nicht um das genetisch aufgepäppelte Designer-Baby. Aber wie lange hält dieses „noch“?
Genau an diesem Punkt haben Ethikkommissionen ihren enorm wichtigen Stellenwert. In zweifacher Hinsicht. Zum einen können sie, wie im Fall des autonomen Fahrens, jene Gesichtspunkte einer solchen Entwicklung aufzeigen und jene Fragen aufs Tapet bringen, die von der Forschung und der Industrie unter den Teppich gekehrt werden. Denn klarerweise schneidet dasjenige Unternehmen bei neuen Geschäftsfeldern am besten mit, das technisch am weitesten vorprescht – mitunter ohne Rücksicht auf Verluste, wie Unfälle mit selbstständig fahrenden Autos gezeigt haben. Hier gilt es, rechtzeitig Leitplanken einzuschlagen, die selbst dann nicht völlig ignoriert werden können, wenn sie noch keinen rechtlichen Charakter haben.
Die zweite wichtige Funktion solcher Ethikkommissionen ist die, dass sie auf die Bremse steigen, bevor eine Entwicklung aus dem Ruder läuft. In diese Kategorie des behutsamen Verzögerns lässt sich die eine oder andere Stellungnahme der österreichischen Bioethikkommission einreihen. Dieses offizielle Gremium beim Bundeskanzleramt hat unter anderem bei der pränatalen Diagnostik oder bei der Leihmutterschaft dafür gesorgt, dass in Österreich nicht sofort alles erlaubt wird, nur weil es in einem Nachbarstaat auch erlaubt ist. In den meisten Fällen wird damit zwar nichts auf Dauer verhindert, aber es entsteht eine wertvolle Zwischenzeit, in der offene Fragen weiter geprüft und positive oder negative Erfahrungen gesammelt werden können.
Immerhin ist die Wissenschaft ehrlich genug, dass sie falsche Hoffnungen und überzogene Heilsversprechen mittelfristig auch wieder korrigiert. Erinnern Sie sich noch, was alles vom Eingriff in die Gene erwartet worden war? Am 26. Juni 2000 ist in großer Inszenierung im Weißen Haus in Washington die Entschlüsselung des menschlichen Genoms verkündet worden. „Jetzt lernen wir die Sprache, mit der Gott das Leben erschuf“, tönte der damalige US-Präsident Bill Clinton.
Heute weiß die Wissenschaft, dass die Epigenetik eine entscheidende Rolle dabei spielt, welche Gene bei einem Menschen eingeschaltet werden und welche bedeutungslos bleiben. Das entwertet nicht den Erfolg, den die Kartierung des Genoms gebracht hat. Aber es stellt ihn, nicht einmal zwei Jahrzehnte später, in einen neuen Rahmen.
Ethikkommissionen haben die Aufgabe, immer wieder aufs Neue diesen Blick auf das Ganze des Menschseins zu schärfen. Wenn sie dieses Nachdenken rechtzeitig anregen oder fallweise auch nur ein paar Jahre Bedenkzeit erzwingen, ist für die Wahrung und den Schutz des Humanum viel erreicht.