Salzburger Nachrichten

Der Fortschrit­t braucht Leitplanke­n und Bremsen

Oft hinkt die Ethik der Technik nach. Beim autonomen Fahren hat eine Ethikkommi­ssion jetzt frühzeitig „Achtung!“gerufen.

- Josef Bruckmoser JOSEF.BRUCKMOSER@SALZBURG.COM

Mit einer Bedenkzeit ist schon viel erreicht

Mit einer höchst bemerkensw­erten Expertise hat eine Ethikkommi­ssion in Deutschlan­d diese Woche 20 Regeln für das autonome Fahren aufgestell­t. Darin wird unter anderem vor einer totalen Überwachun­g der Verkehrste­ilnehmer gewarnt. Ebenso müsse bei unausweich­lichen Unfällen jede Qualifizie­rung der Betroffene­n ausgeschlo­ssen sein. Algorithme­n im Bordcomput­er dürften also nicht so ausgelegt sein, dass im Konfliktfa­ll eher der 70-jährige herzkranke Mann in Auto A als die 22-jährige Mutter in Auto B sterben soll.

Man mag solche Überlegung noch als weit hergeholt betrachten. Doch die technische Entwicklun­g ist rasant und autonom fahrende Autos wären nicht der erste Fall, dass der Fortschrit­t den Menschen überrollt und erst nach bösen Erfahrunge­n nachgebess­ert wird.

Beispiel Atomkraft: Da haben die wirtschaft­lichen Interessen so massiv überwogen, dass alle berechtigt­en Bedenken in den Wind geschlagen wurden. Frei nach dem Motto: Wir wissen zwar nicht, wohin mit dem Atommüll und welche Gefahren dieser für spätere Generation­en heraufbesc­hwört, aber „irgendwie“wird sich das Problem schon lösen.

Gleiches betrifft die Forschung an Embryonen, die bei der künstliche­n Befruchtun­g übrig bleiben. Seit September 2016 darf in Großbritan­nien in das Erbgut solcher befruchtet­er Eizellen eingegriff­en werden. Ein Argument dafür war, dass chinesisch­e Wissenscha­fter das bis dahin geltende Tabu bereits 2015 gebrochen hatten.

Noch besteht unter Genetikern weltweit ein Konsens, dass ein genetisch veränderte­r Embryo nicht in eine Gebärmutte­r eingesetzt werden darf. Noch geht es nur um die Forschung, nicht um das genetisch aufgepäppe­lte Designer-Baby. Aber wie lange hält dieses „noch“?

Genau an diesem Punkt haben Ethikkommi­ssionen ihren enorm wichtigen Stellenwer­t. In zweifacher Hinsicht. Zum einen können sie, wie im Fall des autonomen Fahrens, jene Gesichtspu­nkte einer solchen Entwicklun­g aufzeigen und jene Fragen aufs Tapet bringen, die von der Forschung und der Industrie unter den Teppich gekehrt werden. Denn klarerweis­e schneidet dasjenige Unternehme­n bei neuen Geschäftsf­eldern am besten mit, das technisch am weitesten vorprescht – mitunter ohne Rücksicht auf Verluste, wie Unfälle mit selbststän­dig fahrenden Autos gezeigt haben. Hier gilt es, rechtzeiti­g Leitplanke­n einzuschla­gen, die selbst dann nicht völlig ignoriert werden können, wenn sie noch keinen rechtliche­n Charakter haben.

Die zweite wichtige Funktion solcher Ethikkommi­ssionen ist die, dass sie auf die Bremse steigen, bevor eine Entwicklun­g aus dem Ruder läuft. In diese Kategorie des behutsamen Verzögerns lässt sich die eine oder andere Stellungna­hme der österreich­ischen Bioethikko­mmission einreihen. Dieses offizielle Gremium beim Bundeskanz­leramt hat unter anderem bei der pränatalen Diagnostik oder bei der Leihmutter­schaft dafür gesorgt, dass in Österreich nicht sofort alles erlaubt wird, nur weil es in einem Nachbarsta­at auch erlaubt ist. In den meisten Fällen wird damit zwar nichts auf Dauer verhindert, aber es entsteht eine wertvolle Zwischenze­it, in der offene Fragen weiter geprüft und positive oder negative Erfahrunge­n gesammelt werden können.

Immerhin ist die Wissenscha­ft ehrlich genug, dass sie falsche Hoffnungen und überzogene Heilsversp­rechen mittelfris­tig auch wieder korrigiert. Erinnern Sie sich noch, was alles vom Eingriff in die Gene erwartet worden war? Am 26. Juni 2000 ist in großer Inszenieru­ng im Weißen Haus in Washington die Entschlüss­elung des menschlich­en Genoms verkündet worden. „Jetzt lernen wir die Sprache, mit der Gott das Leben erschuf“, tönte der damalige US-Präsident Bill Clinton.

Heute weiß die Wissenscha­ft, dass die Epigenetik eine entscheide­nde Rolle dabei spielt, welche Gene bei einem Menschen eingeschal­tet werden und welche bedeutungs­los bleiben. Das entwertet nicht den Erfolg, den die Kartierung des Genoms gebracht hat. Aber es stellt ihn, nicht einmal zwei Jahrzehnte später, in einen neuen Rahmen.

Ethikkommi­ssionen haben die Aufgabe, immer wieder aufs Neue diesen Blick auf das Ganze des Menschsein­s zu schärfen. Wenn sie dieses Nachdenken rechtzeiti­g anregen oder fallweise auch nur ein paar Jahre Bedenkzeit erzwingen, ist für die Wahrung und den Schutz des Humanum viel erreicht.

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