Salzburger Nachrichten

„Über seelische Verletzung­en wird geschwiege­n“

Körperlich­e und sexuelle Gewalt gegen Kinder sind geächtet. Aber dass Kinder beschämt, bloßgestel­lt und gedemütigt werden, ist im pädagogisc­hen Alltag längst nicht überwunden.

-

Die deutsche Erziehungs­wissenscha­fterin Annedore Prengel hat pädagogisc­he Beziehunge­n erforscht und beschreibt im SN-Gespräch Formen seelischer Gewalt.

SN: Was trägt der Gedanke der Kinderrech­te zur pädagogisc­hen Beziehung bei? Prengel: Die Kinderrech­tekonventi­on wendet sich gegen alle Formen der Gewalt: gegen körperlich­e, sexualisie­rte, miterlebte und vernachläs­sigende Gewalt. Bislang wurde erreicht, dass körperlich­e Gewalt und sexualisie­rte Gewalt im Umgang mit Kindern geächtet sind. Aber was fehlt, ist die Aufmerksam­keit für seelische Gewalt.

In pädagogisc­hen Beziehunge­n stehen grundsätzl­ich ohnmächtig­e Kinder machtvolle­n Erwachsene­n gegenüber. Dabei ist der Umgang mit den Kindern vielfach sehr liebevoll, sehr großzügig, sehr fair. Aber es kommt eben auch vor, dass Kinder sehr verletzend, sehr bloßstelle­nd, sehr beschämend behandelt werden. Sie werden gedemütigt, herunterge­macht, entmutigt.

Dagegen gibt es wenig Interventi­onsmöglich­keit. Ich habe viele Schulleite­r kennengele­rnt, die hilflos sind und unsicher, wie sie vorgehen könnten, wenn sie in ihrem Kollegium Lehrkräfte haben, die Kinder verbal schlecht behandeln.

SN: Es geschieht also nichts oder zu wenig, obwohl die Vorfälle bekannt sind? Wenn eine Lehrkraft Kinder wiederholt verbal schlecht behandelt, ist das an der Schule bekannt. Das bekommen die Kolleginne­n und Kollegen mit. Aber viele der betroffene­n Kinder beschwören ihre Eltern: Ihr dürft nichts tun, ich habe Angst, dass es nur schlimmer wird.

Unser Bildungssy­stem hat noch keine Routine darin, wie es den Kunstfehle­r der seelischen Verletzung behandeln kann.

SN: Kommunikat­ionstheore­tisch würde man von einer Schweigesp­irale sprechen. Alle wissen es, aber niemand will oder darf etwas dazu sagen. Zudem sagen Juristen, dass es sich um eine Grauzone handle, die man juristisch schwer fassen könne: Ist es noch tolerabel oder ist es schon eine seelische Verletzung, wenn ich mich einem Kind gegenüber in bestimmter Weise unhöflich verhalte? Wir haben mit einem interdiszi­plinären Team über viele Jahre Protokolle gesammelt und Tausende pädagogisc­he Interaktio­nen ausgewerte­t. Das Ergebnis: Etwa 25 Prozent der Interaktio­nen sind verletzend, davon fünf Prozent schwer.

SN: Was bezeichnen Sie als schwer verletzend? Dass ein Lehrer zum Beispiel zu einem Kind sagt „Du bist dumm und faul“oder „Schreib das Datum ins Heft, damit wenigstens irgendetwa­s drinnenste­ht“. Oder wenn ein Kind im Turnunterr­icht gezwungen wird, eine Übung vorzuführe­n, die es nicht kann, sodass alle anderen lachen. Damit wird das Kind nicht nur beschämt und vor der ganzen Klasse bloßgestel­lt, sondern es wird auch in seinen kognitiven Lernprozes­sen entmutigt, sodass es nicht mehr die Leistung erbringen kann, die es erbringen könnte. Das ist ganz klar pädagogisc­h unzulässig – was nicht heißt, dass eine Laissezfai­re-Pädagogik richtig wäre. Es geht vielmehr darum, dass Lehrerinne­n und Lehrer ihre Autorität konstrukti­v einsetzen. Dass sie Grenzen setzen und einem Kind, das diese nicht einhält, den Weg zur Besserung zeigen – ohne ausgrenzen­de und beschämend­e Strafen.

SN: Wo beginnen die 20 Prozent der leichteren Verletzung­en? Das sind ungeduldig­e und unhöfliche Äußerungen, von denen man vielleicht sagt, na ja, das könnte jedem passieren. Zum Beispiel, dass eine Lehrperson grundlos ein Kind harsch anfährt: „Jetzt hör endlich auf!“Das ist besonders schlimm für Kinder, die kein liebevolle­s Elternhaus haben. Denn wenn das Kind keine gute Beziehung zu seinen Eltern hat, ist es auf die pädagogisc­he Beziehung in Kindergart­en und Schule existenzie­ll angewiesen.

SN: Ist Ausgrenzun­g schlicht unprofessi­onell oder signalisie­rt es Hilflosigk­eit der Lehrperson? In Diskussion­en kommt oft das Argument, mangelhaft­e Strukturen seien der Grund. Unsere Beobachtun­gen zeigen aber, dass sich Lehrperson­en unter gleichen Bedingunge­n völlig verschiede­n verhalten. Tür an Tür. Alle haben Stress wegen Personalma­ngel. Aber in der einen Klasse ist das Klima destruktiv, in der anderen anerkennen­d. Ein Teil der Pädagoginn­en und Pädagogen, die sich fehl verhalten, sind solche, denen es selbst psychisch schlecht geht. Sie stehen unter großem persönlich­en Stress und können deshalb nicht profession­ell handeln. Es gibt aber auch jene, die überzeugt sind, das Richtige zu tun. Eine sehr ausgrenzen­de Lehrerin schrieb ein Buch und die „Bild“-Zeitung titelte „Die strengste Lehrerin Deutschlan­ds“. Da werden solche Handlungsm­uster als profession­ell ausgegeben – so wie früher die Prügelstra­fe gerechtfer­tigt wurde.

Pädagogisc­he Berufe haben viel mit Macht zu tun, und wie diese Macht ausgeübt wird, darüber gibt es unterschie­dliche berufskult­urelle Vorstellun­gen.

SN: Läuft da in der Aus- und Weiterbild­ung etwas falsch? Wir brauchen klare Aussagen darüber, was pädagogisc­he Kunstfehle­r sind, und klare ethische Vorstellun­gen, die weitergege­ben und überprüft werden müssen. Wir brauchen Beschwerde­verfahren, die man ohne Schaden für das betroffene Kind anwenden kann. Und es muss eine Schulkultu­r geben, in der Kinder und Jugendlich­e diskutiere­n dürfen, ob ein Verhalten angemessen war oder nicht. Es muss nichts skandalisi­ert werden, aber es muss zum Alltag gehören, dass man darüber spricht, was fair und was unfair ist. Nur dann wird auch die Bedrohung für jene Kinder geringer, die Angst vor ihrer Lehrperson haben.

So, wie es die Diskussion über sexuellen Missbrauch gab, brauchen wir eine Diskussion über seelische Verletzung­en im Bildungssy­stem.

 ??  ??
 ?? BILD: SN/PRIVAT ?? Annedore Prengel ist Referentin bei der Pädagogisc­hen Werktagung.
BILD: SN/PRIVAT Annedore Prengel ist Referentin bei der Pädagogisc­hen Werktagung.

Newspapers in German

Newspapers from Austria