Kein Pflegeregress – und dann?
Alle Parteien sind für die Abschaffung. Ein Problem würde damit zweifellos gelöst, andere Probleme allerdings erst ausgelöst – und das abseits der Geldfrage.
WIEN. Was Wahlkampf alles kann. Blitzartig sind alle Parteien für die Abschaffung des Pflegeregresses. Der SPÖ kann’s gar nicht schnell genug gehen. Flugs wurde dem NochKoalitionspartner ein Gesetzesvorschlag zum sofortigen Parlamentsbeschluss übermittelt. Darin heißt es, dass der Bund den für die Altenund Pflegeheime zuständigen Ländern ab kommendem Jahr 100 Millionen Euro überweist, wenn sie darauf verzichten, auf das Vermögen der Heimbewohner zuzugreifen, wenn Pension und Pflegegeld nicht reichen. Woher das Geld kommen soll, wird nicht erwähnt.
Fällt der Pflegeregress, würde eine Lücke im Solidarsystem geschlossen und eine Ungleichbehandlung beseitigt: Dann würde die Pflege in Heimen von der Allgemeinheit bezahlt und kein Gnadenakt mehr sein. Bisher übernimmt der Staat die Kosten nur für jene, die keine Ersparnisse haben und auch sonst nichts besitzen. Alle anderen, die das Pech haben, zum Pflegefall zu werden und ihr Hab und Gut nicht schon vor (bis zu zehn) Jahren verschenkt zu haben, werden so lang zur Kassa gebeten, bis das Ersparte, die Wohnung, das Häuschen weg sind. „Geschont“wird nur ein Vermögen, das im Normalfall fürs Begräbnis reichen sollte. Schon zuletzt flossen jährlich mehr als 100 Millionen Euro via Regress in Pflegeheime. Tendenz schon allein wegen der demografischen Entwicklung: steigend.
Allerdings: So sehr die Abschaffung des Pflegeregresses zu begrüßen wäre, so viele andere Probleme löst sie aus – und da geht es bei Weitem nicht nur ums Geld.
Erstens: Nur etwa 20 Prozent der pflegebedürftigen Menschen (rund 75.000) werden in Heimen betreut. Der Großteil wird zu Hause versorgt, meist von Angehörigen und nicht selten bis zur totalen Erschöpfung, auch weil Pflegeheimplätze so teuer sind. Ihnen würde die Abschaffung des Pflegeregresses nur dann helfen, wenn es ausreichend Heimplätze gibt. Nur: Können schlagartig qualitätvolle Plätze für viele Tausend Menschen geschaffen werden? Nein.
Zweitens: Ein gar nicht so kleiner Teil der Pflegebedürftigen – rund 30.000 – werden unterdessen von 24-Stunden-Betreuerinnen zu Hause versorgt. Entstanden ist dieses System einst wegen der hohen Kosten der Heimplätze, wegen der Überforderung der oft noch arbeitenden Angehörigen – und deshalb, weil die Mehrheit der Pflegebedürftigen nicht ins Pflegeheim, sondern in ihren vertrauten vier Wänden bleiben will. Fällt der Pflegeregress, wäre die derzeit im Vergleich zum Heim günstigere 24-Stunden-Betreuung schlagartig teurer. Warum rund 2500 Euro im Monat für die Pflege zu Hause bezahlen, wenn das Heim gratis ist? Soll die an sich gut funktionierende 24Stunden-Betreuung durch das Aus des Pflegeregresses nicht zerstört werden, müsste sie unbedingt mehr gefördert werden.
Drittens: Der größte Bedarf besteht derzeit an betreuten Wohnformen, an Zwischenstufen zwischen dem Zuhause und dem Pflegeheim. Gibt es hier genügend Angebote? Nein. Und wenn es sie gäbe: Wären auch sie gratis? Oder nur Pflegeheime?
Viertens: Zwar würden sich viele Menschen für den Pflegeberuf interessieren. Wirklich attraktiv ist er aber nicht – und auch hier geht es nicht nur ums Geld, sondern vielmehr um die Möglichkeit, autonom handeln zu dürfen. Die Abschaffung des Pflegeregresses würde nichts an dieser oft als unbefriedigend empfundenen Situation ändern.
Das sind nur einige der vielen Fragen, die sich in einem Land stellen, das es nicht einmal in einer Legislaturperiode schafft, sich auf einheitliche Standards in Pflegeheimen zu einigen. Sie alle müssten beantwortet werden, ehe die populäre Abschaffung des Pflegeregresses erfolgt.