China wischt die Zeitung weg
Laut chinesischer Regierung sollen die Medien in erster Linie den Staat zusammenhalten. In Städten tun sie das fast nur mehr via Internet. Dort findet man auch überraschende Formate.
Vier Tonlagen gibt es in der chinesischen Sprache, dazu komme als fünfter der Flüsterton, erklärt Lu Hongyong. Der leitende Redakteur bezeichnet sich selbst als den „ältesten Typen der jüngsten Publikation“bei der Shanghai United Media Group. Sixth Tone heißt die Publikation, für die er arbeitet. Sie will im wahrsten Sinne des Wortes die „sechste Tonlage“sein, ein „neues Geräusch aus China“, wie Hongyong sagt.
Berichtet werden in dem Onlinemagazin tatsächlich Geschichten, die normalerweise in chinesischen Medien keinen Platz finden. Meistens sind es Reportagen, manchmal auch Porträts, in denen die Verschmutzung der Flüsse kritisiert wird oder die Ärmsten in einer ländlichen Region gezeigt werden. Auch die Geschichte eines schwulen Vaters und seines transsexuellen Sohns findet dort Platz.
Berichtet wird bei Sixth Tone nicht nur aus den chinesischen Metropolen wie Schanghai, in der der Sitz der Redaktion ist. „Wir gehen dorthin, wo die ,New York Times‘ noch nie war“, fasst Hongyong das Konzept zusammen. China sei ein sehr komplexes Land, die Berichterstattung habe sich bisher aber stark auf einzelne Bereiche konzentriert, sagt er und weist auf die Nische hin, die besetzt werden soll. Der Vergleich mit der „New York Times“kommt dabei nicht von ungefähr: Sixth Tone erscheint auf Englisch und richtet sich an Auslandschinesen und andere Leser jenseits der Landesgrenzen. Daher gibt es sogar eine Facebook-Seite.
Für chinesische Medien ist das normalerweise überflüssig, weil Facebook in China noch immer gesperrt ist. Sixth Tone bildet eine große Ausnahme im Portfolio der Shanghai United Media Group – alle anderen Publikationen richten sich an den chinesischen Markt oder überhaupt nur an die Leser in Schanghai. „Nur“bedeutet dabei ein potenzielles Millionenpublikum: 24 Millionen Einwohner zählt aktuell die chinesische Wirtschaftsmetropole.
„Um die Zentralregierung zu kennen, muss man die News aus Schanghai kennen“, sagt man daher bei der United Media Group selbstbewusst.
Drei Zeitungen und eine Reihe von Zeitschriften werden unter dem Dach des Medienunternehmens produziert, an dem der Staat die Mehrheitsbeteiligung hält. Eine der Zeitungen ist „The Paper“. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass „The Paper“mittlerweile gar nicht mehr auf Papier erscheint. Dafür hat die Onlineausgabe Erfolg, sie zählt 69 Millionen Nutzer. Bis zum Jahresende soll die 100-Millionen-Marke geknackt werden.
Es ist eine Marke, die Chinas größte Tageszeitung, die staatliche „People’s Daily“, schon geknackt hat. Drei Millionen Leser soll die gedruckte Ausgabe der Parteizeitung haben, die Zahl der Onlinenutzer liegt laut eigenen Angaben bei weit mehr als einer Million. Überprüfen lassen sich diese beeindruckenden Daten allerdings kaum.
Ohne Zweifel lässt sich nach einem Besuch der nagelneuen Zentrale der „People’s Daily“in Peking jedenfalls sagen, dass Chinas Medienfachleute den Sprung ins digitale Zeitalter nicht verpasst haben. Der neue Newsroom bietet Raum für Dutzende Arbeitsplätze, die alle auf eine zentrale, digitale Informationstafel ausgerichtet sind. Geschätzt zehn Meter ist der Bildschirm lang, auf dem in Echtzeit die Daten der aktuellen Nutzer der Nachrichtenseite, Zugriffszahlen auf Artikel, die letzten Nachrichtenmeldungen oder untereinander die Übertragungen der weltgrößten Nachrichtensender wie CNN und BBC hereinlaufen. Was auch aufscheint, sind die meistgelesenen Artikel, inklusive der Autoren.
Welche Nachrichten die chinesischen Leser am stärksten nachfragen? Leben, Reisen, Alltag, das sind laut der „People’s Daily“die meistgelesenen Rubriken. Außerdem setze die Redaktion immer stärker auf Live-Berichterstattung, so habe man bei der Planung der neuen Redaktionsräume auch an geeignete Plätze gedacht, in denen Live-Gespräche mit Experten möglich seien.
In der politischen Berichterstattung wird in den kommenden Monaten der nächste Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Fokus stehen. Freilich werde im November dann ein eigenes Reporterteam nach Peking entsandt, heißt es bei der Shanghai United Media Group. Zudem werde es Vorberichte und Kolumnen dazu geben, welche Maßnahmen der Partei gut seien und welche nicht so gut. Interviews mit Politikern zu bekommen sei aber schwierig.
Was die Regierung von „ihren Medien“erwartet, ist jedenfalls keine kritische Berichterstattung. Überraschend offen heißt es auch aus dem Umfeld des staatlichen Informationsdienstes, die Verantwortung der Medien sei es eben, das Land zusammenzuhalten. Unterschiedliche Meinungen darüber, was richtig und was falsch sei, würden die Menschen doch sehr verwirren.
„Wir gehen dorthin, wo die ,New York Times‘ noch nie war.“Lu Hongyong, Magazin Sixth Tone