„Diese mentale Mauer muss stürzen“
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Türkei in ein autoritäres System verwandelt und damit von Europa entfremdet. Der deutsch-türkische Schriftsteller Zafer Şenocak sagt: Das darf nicht so bleiben.
Die Türkei ist ein widersprüchliches und schwieriges Land. So lautet die Diagnose des Autors Zafer Şenocak. SN: In welchem Zustand ist die Türkei ein Jahr nach dem gescheiterten Staatsstreich? Zafer Şenocak: Die Türkei ist ein gespaltenes Land. Entgegen den Berichten, die aus der Türkei kommen, würde ich sagen, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan jetzt so schwach ist wie noch nie. Beim Verfassungsreferendum im Frühjahr haben zwei Parteien, die regierende AKP und die nationalistische MHP, zwar Ja gesagt zur Einführung eines autoritären Präsidialsystems. Aber gegenüber den vorigen Parlamentswahlen haben beide etwa zehn Prozent der Stimmen verloren. Das zeigt, dass Erdoğans Erfolg sehr knapp bemessen ist. SN: Hat Präsident Erdoğan auf den Militärputsch mit einem zivilen Gegenputsch reagiert? Ja, das Land zahlt jetzt den Preis dafür. Tausende Menschen sind verhaftet worden. Der Rechtsstaat ist völlig außer Kraft gesetzt. Innerhalb des Landes sind fast irreparable Schäden entstanden. Auch das Verhältnis zu Europa ist ganz schwierig geworden. Das sind alles Dinge, welche diese Regierung jetzt als Last auf ihren Schultern trägt.
Von demokratischen Verhältnissen kann man in diesem Moment in der Türkei nicht sprechen. Es ist ein Ein-Mann-System, in dem der Staatspräsident auch Parteivorsitzender ist. Das erinnert an die Verhältnisse im früheren Ostblock. Doch im Unterschied zu Russland und anderen autoritären Systemen gibt es in der Türkei nach wie vor eine starke Opposition. Das beweist der jüngste Marsch von Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu für Gerechtigkeit, für den Rechtsstaat. SN: Aber die Machtfülle von Präsident Erdoğan scheint größer denn je zu sein. Kann die Opposition etwas dagegen ausrichten? Ich verstehe gar nicht, dass Europa Erdoğans große Kraft an die Wand malt. Natürlich ist er eine Reizfigur und eignet sich gut für Schlagzeilen in den Medien. Doch die Person Erdoğan ist in der Türkei aus meiner Sicht längst brüchig. Die Zukunft des Landes wird sich in der Wirtschaft und in den Beziehungen zum Westen entscheiden. Wirtschaftlich ist die Türkei ja eng an den Westen gebunden; und dieses Faktum kann der Präsident nicht durch Rhetorik aus der Welt schaffen.
Es geht darum, dass in der Türkei wieder rechtsstaatliche Maßstäbe gelten; dass das Land damit seine internationalen Verpflichtungen, als Mitglied der NATO und als Beitrittskandidat der EU, einhält. Viele Türken spüren inzwischen, dass die Ursachen der Probleme zum großen Teil bei der Regierung liegen – und nicht bloß dem „feindlichen“Ausland zugeschrieben werden können, wie das die Propaganda der Regierung tut. SN: Der „Held“Erdoğan hat nach Ihrem Eindruck Risse bekommen. Doch dieser Machtpolitiker nutzt die Veranstaltungen ein Jahr nach dem Putschversuch noch einmal, um seine Anhänger zu mobilisieren. Kann Europa da überhaupt Gehör finden? In der Türkischen Republik haben sich in den vergangenen zwei, drei Jahren die Stimmen verstärkt, die sagen: Wir müssen politische Reformen durchführen – nicht um Brüssel zu gefallen, sondern für uns selbst. In der türkischen Presse wird heute offen darüber diskutiert, dass man im Umgang mit Europa eine neue Sprache, eine richtige Strategie finden müsse. Der Tenor: So wie bisher geht es nicht weiter. Deshalb ist es wichtig, dass Europa im Verhältnis zur Türkei standhaft bleibt – also an den eigenen politischen Prinzipien festhält, aber auch ein ehrliches, offenes Gesicht zeigt. SN: Hat die Hoffnung der Europäer getrogen, dass die Türkei zum Modell einer Verbindung von Demokratie und Islam werden könnte? Wie hält es ein Land mit einem konservativen islamischen Kern mit den demokratischen Rechten von Andersdenkenden und Andersgläubigen? Die Türkei ist heute ein Land, in dem diese kulturellen Fragen von Grund auf diskutiert werden müssen. Die Integration der Türkei in Europa ist eine spiegelbildliche Thematik zur Integration von Muslimen in Europa. Die Türkei ist deswegen ein Schlüsselland – was von manchen Politikern in Europa leider nicht verstanden wird. Wenn der Diskurs zwischen uns und der Türkei gekappt wird, droht uns auf Jahrzehnte hinaus ein Kulturkonflikt. SN: Aber kann Europa mit einem Autokraten wie Erdoğan wirklich zu einem produktiven Verhältnis zurückfinden? Man darf bei Erdoğan dessen pragmatische Seite nicht unterschätzen. Er hat ja in seiner Politik schon einige Wendungen gemacht. Europäer, die die Türkei skeptisch oder kritisch sehen, nützen allerdings die derzeitige Situation, um dieses Land von uns fernzuhalten. Das ist die falsche Politik. Wir können die Türkei nicht wegdrängen. Die Türkei sitzt uns sozusagen auf dem Rücken. Das ist nicht nur geografisch so; es gilt auch psychologisch, politisch, sozial, historisch. Deshalb müssen wir ein echtes Verhältnis zur Türkei finden.
Im einst geteilten Europa ist eine Vision entwickelt worden, den Kontinent wieder zu einen. Heute entsteht entlang der türkisch-europäischen Grenze eine neue Mauer, eine Kultur-Mauer, eine mentale Mauer. Das muss überwunden werden – in unserem Interesse. Dabei geht es gar nicht darum, der Türkei oder der türkischen Opposition zu helfen. Es ist größtes europäisches Interesse, eine stabile, demokratische, weltoffene Türkei in der Nachbarschaft zu haben. Die Türkei-Debatte beenden – wie soll das gehen? Die Verflechtungen zwischen der Türkei und Europa sind so eng. Und vier Millionen türkischstämmige Menschen leben in Europa, dauerhaft. SN: Welche Perspektiven hat die Türkei mittelfristig? In der Türkei ist alles möglich, in diesem Land ist alles offen. Die nächsten eineinhalb Jahre dürften für die Türkische Republik entscheidend sein. Erdoğan hat mit seiner Innenpolitik viel Porzellan zerschlagen. Vertrauen demokratisch gesinnter Menschen ist verloren gegangen. Das ist das Problem: Es gibt kein Vertrauen mehr gegenüber Erdoğan. Darum ist er im Grunde nicht zukunftsfähig.
Auch Erdoğans Anhänger sind nicht mehr so euphorisch wie am Anfang. Die Stimmung im Land ist gekippt. Der Präsident hat zwar einen harten Kern von Befürwortern. Aber die von ihm geschaffene Volkspartei AKP bröckelt bereits; sie ist müde geworden. Das spürt Erdoğan selbst. Deshalb hat er jetzt zu neuem Ansporn und zu einer großen Anstrengung aufgerufen. Nur wenn Erdoğan nicht starrköpfig bleibt, sondern seine Politik noch einmal revidiert, kann er an der Macht bleiben. Das würde die Türkei auch wirtschaftlich wieder stärker werden lassen. Zafer Şenocak, 1961 in Ankara geboren, lebt heute in Berlin. Der deutschtürkische Autor veröffentlichte 2016 das Buch „In deinen Worten: Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters“(Babel Verlag, München).
„Die Stimmung in der Türkei ist offenbar schon gekippt.“Zafer Şenocak, Schriftsteller