„Dann werden Steine fliegen, fürchte ich“
Die EU-Abgeordnete Martina Anderson fordert einen Sonderstatus für Nordirland nach dem Brexit. Und warnt vor neuen Grenzen auf der Insel.
Martina Anderson war Mitglied der Terrorgruppe Irish Republican Army (IRA). Heute verteidigt sie mit harschen Worten den prekären Frieden in Nordirland. Der britischen Premierministerin Theresa May empfahl sie kürzlich, sich neue „Grenzen dort hinzustecken, wo die Sonne nicht scheint“. SN: Warum ist der Brexit so problematisch für Nordirland – und warum sind Sie so hart gegenüber London? Martina Anderson: Der Brexit unterminiert das Karfreitagsabkommen (mit dem 1998 der Friede in Nordirland hergestellt wurde, Anm.), das die Menschen im Norden und im Süden akzeptieren. Jetzt heißt es aus London, dass das Abkommen wegen des Brexit umgeschrieben werden muss. Wenn wir beginnen, daran herumzudoktern, und es aufmachen, gibt es Ärger. SN: Konkret? Seit 20 Jahren haben wir eine grüne Grenze in Irland. Der einzige Unterschied sind weiße oder gelbe Straßenmarkierungen. EU-Verhandler Michel Barnier hat dieser Tage aber bestätigt, was wir schon länger sagen: Es kann keine reibungslosen Grenzen mit Drittstaaten geben. Damit kommt wieder eine „harte Grenze“ins Spiel – mitten durch die Insel. Die 177 Übergänge im Land und die lange Küste wären eine Einladung für die Umgehung der Außenzölle; es wäre unmöglich für die EU, den Binnenmarkt zu schützen, außer mit einer Trump-Wand. SN: Wie gefährlich ist die Situation Ihrer Meinung nach? Ich will nicht melodramatisch sein. Ich habe den Bürgerkrieg erlebt. Und ich tue alles, um eine andere Generation davon abzuhalten, das zu erleben und die Entscheidungen zu treffen, die ich getroffen habe. Es gibt keine „weiche Grenze“. Wenn die Teilung Irlands wieder kommt – was passiert, wenn der Brexit nach dem Willen der britischen Regierung erfolgt –, werden zuerst Anlagen für Zollkontrollen entstehen. Dann wird ein Stein fliegen, dann ein Ziegel und dann etwas anderes. Und dann wird man finden, es braucht den Schutz bewaffneter Kräfte. Das bringt uns dorthin zurück, wo wir hergekommen sind. SN: Sie glauben, dass es so weit kommen könnte? Nur wenn die Trennung wieder verstärkt wird. Wir haben für die Anerkennung unserer irischen Identität gekämpft. Die Bestrebungen für ein vereintes Irland sind heute gleichbedeutend wie jene, ein Teil Großbritanniens zu sein. Wir werden dieses Recht nicht aufgeben. Wir werden uns nicht wie Bürger zweiter Klasse behandeln lassen. Die Menschen im Norden haben für den Verbleib in der EU gestimmt. Der Norden von Irland ist in einer einzigartigen Situation. Daher können wir keine harte Grenze erlauben. Es wäre fahrlässig, leichtsinnig und falsch, zu glauben, das würde akzeptiert oder toleriert werden. SN: Ist das eine Drohung oder eine Befürchtung? Ich fürchte es. Ich werde mit jeder Faser meines Herzens daran arbeiten, das zu verhindern. Meine Generation hat seit 1998 darum gekämpft, Frieden, Sicherheit und Versöhnung zu ermöglichen. Wird die Teilung wieder verschärft, würde es heißen: „Die sind gescheitert.“ SN: Die Situation hilft auch Ihrer Partei, die im Grunde die Wiedervereinigung will? Ja, wir glauben, dass es gut wäre für ganz Irland. Aber wir versuchen, uns an das Konsensprinzip des Karfreitagsabkommens zu halten. Wir wollen die Menschen an Bord haben und ihnen nichts aufzwingen. Das Abkommen sagt, es wird eine Abstimmung über die Einigkeit oder die Grenze geben – wenn es die Umstände verlangen. Leider muss der Außenminister entscheiden, ob die Umstände gegeben sind. SN: Wie wahrscheinlich ist das? Die Dinge haben sich verändert, völlig. Wir hatten gerade Wahlen im Norden Irlands. In beiden Fällen haben die Unionisten (mit denen sich Sinn Féin seit 1998 die Macht teilt, Anm.) ihre Mehrheit verloren. Zu- gleich ist die britische Regierung eine Partnerschaft mit der DUP (Democratic Unionist Party) eingegangen. Das bedeutet, dass die Klausel im Karfreitagsabkommen, wonach die britische Regierung rigoros unparteilich agieren muss, nicht mehr gilt.
Das ist, wo wir stehen und was unsere Verbündeten in Europa bedenken sollten. Irland ist ein ganz spezieller Fall; es gibt ein internationales Abkommen, in das die UNO, die USA und die EU involviert waren. Wir sind EU-Bürger, wir haben ein Recht auf irische Pässe. Europa muss sich mit dem Norden Irlands getrennt von England, Schottland und Wales beschäftigen und ein ganz eigenes, flexibles und einfallsreiches Arrangement finden.
Die Lösung wäre ein Sonderstatus, der dem Norden den Zugang zum Europäischen Gerichtshof garantiert und sicherstellt, dass die Regierung in Übereinstimmung mit dem Karfreitagsabkommen und den EU-Gesetzen agieren kann. SN: Was können oder sollen die anderen EU-Staaten tun? Sie könnten ein Signal setzen, dass sie nicht für das Entstehen eines neuen Konflikts, neuer Spannungen verantwortlich sein wollen. Sie könnten sagen, dass sie nicht Geld für einen Friedensprozess gezahlt haben, um dann wieder zum Start zurückzugehen. Sie könnten darauf drängen, dass das Problem nicht aufgeschoben wird. Sie könnten den Sonderstatus für Nordirland unterstützen. Und im Fall einer Wiedervereinigung müssten sie finanzielle Unterstützung gewähren, wie damals bei Deutschland, bis wir auf eigenen Füßen stehen können.