Soll auch das Staatsziel Wachstum in die Verfassung kommen?
Die jüngst entfachte Debatte über die Höchstgerichtsurteile zu den Plänen für eine dritte Start-und-Lande-Piste am Flughafen Wien-Schwechat zeigt Grundprobleme einer bereits überfrachteten Verfassung auf.
Staatsziele haben zuletzt wieder Eingang in die verfassungspolitische Debatte gefunden. Und auch die Höchstgerichte waren damit beschäftigt. So hob der Verfassungsgerichtshof (VfGH) Ende Juni eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) auf, in der dieser den Bau einer dritten Startund-Lande-Piste beim Flughafen Schwechat untersagt hatte. Die Verfassungsrichter sahen in dieser Entscheidung einen schweren Vollziehungsfehler in der Heranziehung des Umwelt-Bundesverfassungsgesetzes.
Die Höchstrichter monierten, dass das BVwG die „sonstigen öffentlichen Interessen“im Luftfahrtgesetz eigenständig im Sinne der Verfassung interpretierte. Richtig wäre es aber gewesen, dabei nur jene Interessen zu berücksichtigen, die im Luftfahrtgesetz selbst vorkommen. Zudem habe sich das BVwG bei der Berechnung von Emissionen grob verrechnet. Schließlich sei es auch unzutreffend, die Umweltziele der niederösterreichischen Landesverfassung einzubeziehen, weil dieses Landesverfassungsgesetz nur regionale Bedeutung habe. Alles in allem habe somit das BVwG die Rechtslage ge- häuft verkannt und damit objektive Willkür geübt.
Grundsätzlich binden Staatsziele sowohl Gesetzgeber als auch alle Vollziehungsorgane, den VfGH und das BVwG einbezogen. Im hier maßgeblichen Bundesverfassungsgesetz über die Nachhaltigkeit, den Tierschutz, umfassenden Umweltschutz, die Sicherstellung der Wasser- und Lebensmittelversorgung und die Forschung bekennen sich Bund, Länder und Gemeinden zum „umfassenden Umweltschutz“. Dieser besteht insbesondere „in Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie zur Vermeidung von Störungen durch Lärm“.
Staatsziele haben zwar eine ähnliche Funktion wie Grundrechte, anders als diese gestalten sie aber keine subjektiven Rechte.
Grundsätzlich hat der VfGH zweifellos die Kompetenz, Entscheidungen der Verwaltungsgerichte auf Parteienantrag (Beschwerde) hin zu prüfen. Den Verfassungsrichtern steht es zu, Vollziehungsfehler zu orten, zu begründen und gegebenenfalls der Behörde bzw. dem Gericht einen schweren Auslegungsfehler, ja sogar denkunmögliche Gesetzesanwendung zuzusinnen. Kritik an Entscheidungen der Unterinstanzen ist wichtig, aber sie sollte nicht verletzend ausfallen. Denn in einer verfassungs- und völkerrechtskonformen Interpretation ist es nicht abwegig, auch höherrangige Ziele in die Auslegung einfachgesetzlicher, unbestimmter Gesetzesbegriffe einfließen zu lassen. Andererseits steht es dem VfGH zu, eine näher am konkreten Maßstab des Gesetzes orientierte Entscheidung eines Verwaltungsgerichts einzumahnen.
Die verfassungspolitische Diskussion über die Verankerung neuer Staatsziele in der Bundesverfas- sung, wie ein Bekenntnis zum Wirtschaftswachstum, wurde bisher angesichts der angespannten politischen Situation vor den Neuwahlen am 15. Oktober entsprechend wenig differenziert geführt. Eine Pause zum Nachdenken und für eine sachliche Debatte wäre hier geboten.
Staatsziele sind ein problematisches Terrain, weil die Bundesver- fassung sich von ihrer Grundkonzeption her auf „Spielregeln“beschränkt und nur wenige inhaltliche Vorgaben enthält, die meist historische Gründe haben, wie das NSVerbotsgesetz und die Verhinderung von Wiederbetätigung oder die im Staatsvertrag von Wien enthaltenen Gebote hinsichtlich Minderheitenschutz, Demokratie und Aufrechterhaltung des republikanischen Systems.
Später haben „umfassende Landesverteidigung“, Gleichberechtigung und Behindertenförderung, Umweltschutz und Atom-BVG (lange nach der Abstimmung über das AKW Zwentendorf) die Bundesverfassung ergänzt.
Ob aber die Verfassung der geeignete Ort ist, ein ethisch erwünschtes Verhalten von Staatsorganen zu postulieren, kann angesichts der Mechanismen einer auf Organzuständigkeiten und checks and balances sowie umfassende Rechtskontrolle abzielenden Konstitution fragwürdig sein. Vor allem aber bringen neue Staatsziele stets ein Bündel neuer Auslegungsfragen mit sich, in ihrem Verhältnis zu bestehenden Vorgaben, die ja nicht nur innerstaatlicher Natur sind, sondern auch völker- oder unionsrechtlichen Verpflichtungen folgen.
Bestehende Staatsziele im Verfassungsrang werfen schon jetzt Probleme des Normwiderspruchs auf, der aber zumeist unauffällig wegdiskutiert oder im Sinn einer Staatsdoktrin pragmatisch übergangen wird. So gebietet das Neutralitäts-BVG 1955 die Nichteinmischung in bewaffnete Konflikte. Das Staatsziel der umfassenden Landesverteidigung (Art 9a B-VG) kann allerdings eine andere, weniger konfliktscheue Wehrpolitik (zum Beispiel eine engere NATOKooperation) nahelegen. Und die „Petersberg“-Aufgaben, an denen Österreich laut Bundesverfassung (Art 23f B-VG) mitwirken soll, verlangen ein aktives wehrpolitisches Engagement. Damit wurde das Neutralitäts-BVG partiell aufgehoben – jedoch darf dies in der Öffentlichkeit nur unter vorgehaltener Hand diskutiert werden. Solidarität und Neutralität sind aber gegenläufige Prinzipien. Denn wer außerhalb eines Konflikts bleibt, agiert nicht solidarisch, wer aber Truppen in Battlegroups der EU entsendet, ist nicht neutral.
Welches ist somit in Neutralitätsfragen ein übergeordnetes Verfassungsziel? Die unionsrechtlich fundierte Solidarität, die durch völkerrechtliche Vereinbarungen gestützte Kooperation oder die traditionelle und als Staatsziel definierte Neutralität? Die Antwort muss auch hier differenziert ausfallen.
Auch im wirtschaftlichen Kontext lässt sich aus der Verfassung die Entscheidung für ein marktwirtschaftliches, auf privater Wirtschaftstätigkeit basierendes System ableiten.
Die Grundrechte der Wirtschaft, darunter vor allem Eigentums-, Erwerbs- und Berufswahlfreiheit, ermöglichen es, restriktive Entscheidungen und einschränkende Normen mit hinreichender Erfolgsaussicht beim VfGH anzufechten. Die EU-Grundrechtscharta ergänzt diese Rechte nach dem Günstigkeitsprinzip. Und die Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ermöglichen es, wirtschaftsfreundliche Entscheidungen durchzusetzen. Daraus ergibt sich zumindest indirekt die Sicherung des Wirtschaftswachstums mit rechtlichen Mitteln.
Wer indes neue Staatsziele fordert, sollte vorher genau über die Folgen für die Auslegung im Einzelfall nachdenken.