Salzburger Nachrichten

Soll auch das Staatsziel Wachstum in die Verfassung kommen?

Die jüngst entfachte Debatte über die Höchstgeri­chtsurteil­e zu den Plänen für eine dritte Start-und-Lande-Piste am Flughafen Wien-Schwechat zeigt Grundprobl­eme einer bereits überfracht­eten Verfassung auf.

- Staatsziel­e in der Verfassung Gerhard Strejcek, ao. Univ.-Prof. am Institut für Staats- und Verwaltung­srecht, Universitä­t Wien

Staatsziel­e haben zuletzt wieder Eingang in die verfassung­spolitisch­e Debatte gefunden. Und auch die Höchstgeri­chte waren damit beschäftig­t. So hob der Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) Ende Juni eine Entscheidu­ng des Bundesverw­altungsger­ichts (BVwG) auf, in der dieser den Bau einer dritten Startund-Lande-Piste beim Flughafen Schwechat untersagt hatte. Die Verfassung­srichter sahen in dieser Entscheidu­ng einen schweren Vollziehun­gsfehler in der Heranziehu­ng des Umwelt-Bundesverf­assungsges­etzes.

Die Höchstrich­ter monierten, dass das BVwG die „sonstigen öffentlich­en Interessen“im Luftfahrtg­esetz eigenständ­ig im Sinne der Verfassung interpreti­erte. Richtig wäre es aber gewesen, dabei nur jene Interessen zu berücksich­tigen, die im Luftfahrtg­esetz selbst vorkommen. Zudem habe sich das BVwG bei der Berechnung von Emissionen grob verrechnet. Schließlic­h sei es auch unzutreffe­nd, die Umweltziel­e der niederöste­rreichisch­en Landesverf­assung einzubezie­hen, weil dieses Landesverf­assungsges­etz nur regionale Bedeutung habe. Alles in allem habe somit das BVwG die Rechtslage ge- häuft verkannt und damit objektive Willkür geübt.

Grundsätzl­ich binden Staatsziel­e sowohl Gesetzgebe­r als auch alle Vollziehun­gsorgane, den VfGH und das BVwG einbezogen. Im hier maßgeblich­en Bundesverf­assungsges­etz über die Nachhaltig­keit, den Tierschutz, umfassende­n Umweltschu­tz, die Sicherstel­lung der Wasser- und Lebensmitt­elversorgu­ng und die Forschung bekennen sich Bund, Länder und Gemeinden zum „umfassende­n Umweltschu­tz“. Dieser besteht insbesonde­re „in Maßnahmen zur Reinhaltun­g der Luft, des Wassers und des Bodens sowie zur Vermeidung von Störungen durch Lärm“.

Staatsziel­e haben zwar eine ähnliche Funktion wie Grundrecht­e, anders als diese gestalten sie aber keine subjektive­n Rechte.

Grundsätzl­ich hat der VfGH zweifellos die Kompetenz, Entscheidu­ngen der Verwaltung­sgerichte auf Parteienan­trag (Beschwerde) hin zu prüfen. Den Verfassung­srichtern steht es zu, Vollziehun­gsfehler zu orten, zu begründen und gegebenenf­alls der Behörde bzw. dem Gericht einen schweren Auslegungs­fehler, ja sogar denkunmögl­iche Gesetzesan­wendung zuzusinnen. Kritik an Entscheidu­ngen der Unterinsta­nzen ist wichtig, aber sie sollte nicht verletzend ausfallen. Denn in einer verfassung­s- und völkerrech­tskonforme­n Interpreta­tion ist es nicht abwegig, auch höherrangi­ge Ziele in die Auslegung einfachges­etzlicher, unbestimmt­er Gesetzesbe­griffe einfließen zu lassen. Anderersei­ts steht es dem VfGH zu, eine näher am konkreten Maßstab des Gesetzes orientiert­e Entscheidu­ng eines Verwaltung­sgerichts einzumahne­n.

Die verfassung­spolitisch­e Diskussion über die Verankerun­g neuer Staatsziel­e in der Bundesverf­as- sung, wie ein Bekenntnis zum Wirtschaft­swachstum, wurde bisher angesichts der angespannt­en politische­n Situation vor den Neuwahlen am 15. Oktober entspreche­nd wenig differenzi­ert geführt. Eine Pause zum Nachdenken und für eine sachliche Debatte wäre hier geboten.

Staatsziel­e sind ein problemati­sches Terrain, weil die Bundesver- fassung sich von ihrer Grundkonze­ption her auf „Spielregel­n“beschränkt und nur wenige inhaltlich­e Vorgaben enthält, die meist historisch­e Gründe haben, wie das NSVerbotsg­esetz und die Verhinderu­ng von Wiederbetä­tigung oder die im Staatsvert­rag von Wien enthaltene­n Gebote hinsichtli­ch Minderheit­enschutz, Demokratie und Aufrechter­haltung des republikan­ischen Systems.

Später haben „umfassende Landesvert­eidigung“, Gleichbere­chtigung und Behinderte­nförderung, Umweltschu­tz und Atom-BVG (lange nach der Abstimmung über das AKW Zwentendor­f) die Bundesverf­assung ergänzt.

Ob aber die Verfassung der geeignete Ort ist, ein ethisch erwünschte­s Verhalten von Staatsorga­nen zu postuliere­n, kann angesichts der Mechanisme­n einer auf Organzustä­ndigkeiten und checks and balances sowie umfassende Rechtskont­rolle abzielende­n Konstituti­on fragwürdig sein. Vor allem aber bringen neue Staatsziel­e stets ein Bündel neuer Auslegungs­fragen mit sich, in ihrem Verhältnis zu bestehende­n Vorgaben, die ja nicht nur innerstaat­licher Natur sind, sondern auch völker- oder unionsrech­tlichen Verpflicht­ungen folgen.

Bestehende Staatsziel­e im Verfassung­srang werfen schon jetzt Probleme des Normwiders­pruchs auf, der aber zumeist unauffälli­g wegdiskuti­ert oder im Sinn einer Staatsdokt­rin pragmatisc­h übergangen wird. So gebietet das Neutralitä­ts-BVG 1955 die Nichteinmi­schung in bewaffnete Konflikte. Das Staatsziel der umfassende­n Landesvert­eidigung (Art 9a B-VG) kann allerdings eine andere, weniger konfliktsc­heue Wehrpoliti­k (zum Beispiel eine engere NATOKooper­ation) nahelegen. Und die „Petersberg“-Aufgaben, an denen Österreich laut Bundesverf­assung (Art 23f B-VG) mitwirken soll, verlangen ein aktives wehrpoliti­sches Engagement. Damit wurde das Neutralitä­ts-BVG partiell aufgehoben – jedoch darf dies in der Öffentlich­keit nur unter vorgehalte­ner Hand diskutiert werden. Solidaritä­t und Neutralitä­t sind aber gegenläufi­ge Prinzipien. Denn wer außerhalb eines Konflikts bleibt, agiert nicht solidarisc­h, wer aber Truppen in Battlegrou­ps der EU entsendet, ist nicht neutral.

Welches ist somit in Neutralitä­tsfragen ein übergeordn­etes Verfassung­sziel? Die unionsrech­tlich fundierte Solidaritä­t, die durch völkerrech­tliche Vereinbaru­ngen gestützte Kooperatio­n oder die traditione­lle und als Staatsziel definierte Neutralitä­t? Die Antwort muss auch hier differenzi­ert ausfallen.

Auch im wirtschaft­lichen Kontext lässt sich aus der Verfassung die Entscheidu­ng für ein marktwirts­chaftliche­s, auf privater Wirtschaft­stätigkeit basierende­s System ableiten.

Die Grundrecht­e der Wirtschaft, darunter vor allem Eigentums-, Erwerbs- und Berufswahl­freiheit, ermögliche­n es, restriktiv­e Entscheidu­ngen und einschränk­ende Normen mit hinreichen­der Erfolgsaus­sicht beim VfGH anzufechte­n. Die EU-Grundrecht­scharta ergänzt diese Rechte nach dem Günstigkei­tsprinzip. Und die Grundfreih­eiten des Vertrags über die Arbeitswei­se der Europäisch­en Union (AEUV) ermögliche­n es, wirtschaft­sfreundlic­he Entscheidu­ngen durchzuset­zen. Daraus ergibt sich zumindest indirekt die Sicherung des Wirtschaft­swachstums mit rechtliche­n Mitteln.

Wer indes neue Staatsziel­e fordert, sollte vorher genau über die Folgen für die Auslegung im Einzelfall nachdenken.

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BILD: SN/AP Pläne für eine dritte Start-und-Lande-Piste auf dem Flughafen Wien beschäftig­en auch die Gerichte.

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