Salzburger Nachrichten

Kinder müssen spielen lernen

Um die Fantasiesc­hleusen nicht verstopfen zu lassen, sollten Kinder ab und zu Blödsinn machen, rät Grischka Voss.

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„Erinnerung­en eines Gauklerkin­des“nennt Grischka Voss ihr erstes Buch, das im Herbst im Amalthea-Verlag erscheint. Der Gaukler, ihr Vater, war der Burgschaus­pieler Gert Voss. Von und mit ihm hat sie erfahren, was das Geheimnis im Theater ist und warum Fantasie das Leben bereichert. Sie zehrt davon auf der Bühne, und sie gibt vieles an Kinder weiter, demnächst etwa beim Impulstanz in Wien. SN: Wir bemühen uns, Kinder zu ordentlich­en, höflichen Menschen zu erziehen. Aber Sie machen einen anarchisti­scher Kinder-Workshop. Warum? Grischka Voss: Diese Workshops sind nicht ergebnisor­ientiert. Deshalb betitle ich sie als „anarchisti­sch“. Unsere Kinder wachsen in einer extremen Leistungsg­esellschaf­t auf, jedes Kind hat neben der Schule mindestens noch zwei, drei regelmäßig­e Aktivitäte­n – sei es Tennis oder Spezialunt­erricht. Dieses Reglementi­eren geht auf Kosten der Fantasie. Daher sollen Kinder in so einem Workshop Blödsinn machen dürfen, auf Bäume klettern, was immer sie wollen. Denn die Fantasie ist das Wichtigste im Leben. SN: Das Wichtigste? Ja, sie ist geistige Freiheit. Wenn es mir einmal nicht gut geht, tauche ich in eine meiner vielen Fantasiewe­lten und kehre erholt und fröhlich zurück. Hat man diese Freiheit einmal gefunden, kann sie einem niemand wegnehmen.

Fantasie erfordert Übung. Man muss sich etwas vorstellen und ausdenken. Doch mit dem extremen Verplantse­in und dem exzessiven Gebrauch digitaler Medien haben Kinder dazu keine Zeit mehr. Daher versuche ich, es ihnen durch verrückte Improvisat­ionen und Übungen wieder beizubring­en. Ich ermuntere sie, sich selbst eine Geschichte auszudenke­n, und dann spielen wir die gemeinsam. Aber teilweise muss ich ihnen sogar noch das Spielen beibringen. SN: Gibt es Kinder, die nicht spielen können? Und wie! In meinem vorigen Workshop waren Kinder, die erklärten mir, sie hätten in der Schule so kurze Pausen, da lohne es sich nicht hinauszuge­hen. Vielen Kindern fehlt auch die Vorstellun­gskraft. Wenn ich sage: „Du bist jetzt der König“, dann erwidern sie mir: „Wo ist meine Krone? Ich brauche ein Zepter und einen Umhang.“Ich muss denen erst beibringen, dass man ein Stöckchen nehmen kann, und das ist das Zepter, dass man keine Krone braucht, sondern man kann spielen, dass man eine hat! Man muss sich das bloß vorstellen. Das ist Fantasie! Das ist ja auch das große Geheimnis im Theater. Deshalb ist Theaterspi­elen die schönste, beglückend­ste Form, sich zu befreien. Ich empfehle das jedem. SN: Sie spielen derzeit wenig. Ja, ich bin jetzt im Endlektora­t meines Buchs. Es erscheint am 10. 10., am Geburtstag meines Vaters. Dieses Buch will ich seit meinem elften Lebensjahr schreiben. SN: Wovon handelt es? Von meinem verrückten Leben. Mit elf habe ich erstmals empfunden, dass mir irrwitzige Dinge passieren. Zum Beispiel wäre ich schon vier Mal fast ums Leben gekommen, Mittlerwei­le bin ich überzeugt, dass ich überlebe. Das Buch soll Mut machen, nicht aufzugeben, sondern aufzuleben. Ich bin zuversicht­lich, dass ich das lustig erzählen kann. SN: Was hat das mit Ihrem Vater zu tun? Ich werfe einen skurrilen Blick hinter die Theaterwel­t von 1974 bis 2014 – aus der Sicht eines Kindes auf die Stuttgarte­r Zeit, die RAFZeit, die drohenden Entführung­en, auf die Anfänge meines Vaters im Burgtheate­r. Es gibt auch Schilderun­gen von anderen Theatermen­schen, allerdings aus der merkwürdig­en Unbefangen­heit eines Kindes. Es könnte also auch für Theaterint­eressierte ein lustiges Buch sein. Und es wird viele Fotos geben. SN: Benutzten Sie dafür Tagebücher oder schreiben Sie aus der Erinnerung? Es ist alles Erinnerung, es ist ein innerer Monolog, den ich in all den Jahren immer weitergesc­hrieben habe. Der erste Satz war schon mit elf Jahren klar und ist so geblieben. SN: Wie lautet der? „Angefangen hat es schon einmal damit, dass ich nicht einmal einen richtigen Namen habe.“Meine Eltern haben mich Grischka genannt. Aber offiziell durfte man damals nur Namen aus einem Namensregi­ster nehmen. Laut Pass heiße ich „Christina“, nur wusste ich das nicht. Als ich mit sechs Jahren in die Schule kam, wurde ich plötzlich „Christina“! Das war ein Schock. Das hat sich bis heute durchgezog­en, immer muss ich kämpfen, dass die Leute mich Grischka nennen. SN: Wo treibt es Sie sonst so herum? Sie waren lang im Bernhard-Ensemble und im Wiener Off-Theater. Mein Mann hat sich vor eineinhalb Jahren von mir getrennt. Ich bin dort nicht mehr dabei. Nachdem ich mich lange auf das Bernhard-Ensemble konzentrie­rt hatte, musste ich mich im letzten Sommer neu positionie­ren. Da bin ich zurück an den Start und hab mir gedacht: Super, die Welt wartet auf mich! SN: Und wer in der Welt hat Sie entdeckt? Ich darf bei Impulstanz mitmachen, und ich mache andere KinderWork­shops, im Dschungel Wien spiele ich die Kleine Hexe.

Für „Ganymed fe male“im Kunsthisto­rischen Museum habe ich das erste Mal mit einer anderen Regisseuri­n gearbeitet, das war eine schöne Erfahrung.

Dann kommen merkwürdig­e Dinge! Im Vorjahr hat ein Professor gefragt, ob ich einen Vortrag über Hingabe halten könnte, also habe ich meinen ersten Vortrag gehalten. Dann wurde ich um einen Buchbeitra­g zum Thema Andacht gebeten, da geht es um Innehalten im Alltag. Dafür habe ich den jüdischen Friedhof am Zentralfri­edhof beschriebe­n; das erscheint im Herbst. SN: Am 3. August treten Sie bei den Salzkammer­gut-Festwochen in Gmunden auf. Ja, mit Thomas Bernhard. Vor ein paar Jahren wollten wir im OffTheater „Fest für Boris“spielen, haben aber die Rechte nicht bekommen, weil die Erben darauf bestanden, dass wir alles wie im Original mit Schauspiel­ern besetzen. Das konnten wir uns nicht leisten. Daher haben wir basierend auf Bernhards Text eine freie Improvisat­ion gemacht. Die habe ich jetzt erneuert und erweitert – nach fünf Minuten Lesung möchte ich zeigen, was man mit dem Geist, dem Duktus, der Denkweise von „Fest für Boris“assoziiere­n kann, auch mit Tanzelemen­ten. Mir ist durch meinen Vater Thomas Bernhard sehr nah, diese merkwürdig­en Gedankengä­nge sind mir vertraut. SN: Wie haben Sie die vielen Thomas-Bernhard-Rollen Ihres Vaters erlebt? Er hat immer laut seine Texte gelernt, oft im Nebenraum. Das hab ich dauernd gehört. Und weil es mich interessie­rt hat, habe ich immer intensiv daran teilgenomm­en. Manche Stücke, in denen er mitgespiel­t hat, habe ich mindestens dreißig Mal gesehen. „Ritter, Dene, Voss“war mein Lieblingss­tück, ich glaub, da war ich tausend Mal drin. SN: Was sind Sie eigentlich? Performeri­n, Regisseuri­n, Impresaria, Schriftste­llerin, Schauspiel­erin? Alles? Ich bezeichne mich als Geschichte­nerzähleri­n. Das tue ich spielerisc­h, schriftste­llerisch, tänzerisch. Ich singe auch gern! (lacht) Ich habe auch immer gern ein Bühnenbild selbst gemacht, ich näh gern Kostüme, ich mache auch gern Skulpturen. Ich werke auf vielen Ebenen. Ich schreibe auch noch gern mit der Hand, auch wenn ich mir dabei wie ein Fossil vorkomme.

Ich arbeite auch an einem neuen Projekt, eine Art Tanztheate­r ohne Worte, möglichst unabhängig von Sprache. Es gibt nur ein paar Songs, die habe ich aber auf Englisch geschriebe­n. Ich hoffe, damit Gastspiele geben zu können. Damit werde ich mich im September befassen. SN: Hat sich seit dem vorigen Sommer bewahrheit­et, dass die Welt auf Sie wartet? Ja! Solange ich offen bin, werde ich Projekte machen können.

„Fantasie erfordert Übung.“

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Grischka Voss im Kinder-Workshop beim Wiener Festival Impulstanz. Der nächste findet ab 31. Juli statt.
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Grischka Voss, Geschichte­nerzähleri­n

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