Lesen verändert die Sicht auf die Welt
Eine Studie mit Analphabeten gibt Hinweise auf eine mögliche Ursache einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. Lesen ist eine so junge Kulturtechnik, dass sie im Gehirn der Menschen noch gar keinen fixen Platz hat.
LEIPZIG. Die Menschen entwickelten vor ungefähr 8600 Jahren eine Schrift und lernten lesen. Forscher waren lange Zeit auf der Suche nach dieser „Leseecke“im Gehirn. Vergeblich. Lesen ist eine so junge kulturelle Errungenschaft der Menschheit, dass im Gehirn noch gar kein eigener Platz für sie vorgesehen ist.
Während der junge Mensch lesen lernt, werden seine Hirnregionen, die bis dahin für andere Fähigkeiten genutzt wurden, umfunktioniert. Wie raumgreifend diese Veränderung im Gehirn ist, das wusste man bisher nicht. Neuro- und Sprachwissenschafter vom Max-PlanckInstitut fanden jetzt heraus, dass sich das Gehirn dabei grundlegend verändert. Und zwar nicht nur bei Kindern, sondern auch bei erwachsenen Analphabeten.
Lesen verändert uns Menschen und unsere Sicht auf die Welt also nicht nur im übertragenen Sinn, sondern sogar physisch. Im Zuge des Lesenlernens kommt es zu einer Art Recyclingprozess im Gehirn: Hirnareale, die eigentlich von der Evolution für die Erkennung komplexer Objekte wie Gesichter konzipiert waren, werden nun durch die Fähigkeit, Buchstaben in Sprache zu übertragen, besetzt. Dadurch entwickeln sich einige Regionen unseres visuellen Systems zu Schnittstellen zwischen unserem Seh- und Sprachsystem. „Bisher ging man davon aus, dass sich diese Veränderungen lediglich auf die äußere Großhirnrinde beschränken, die bereits dafür bekannt war, sich schnell an neue Herausforderungen anzupassen“, sagt der Studienleiter und Psycholinguist Falk Huettig. Doch bei der Studie mit indischen Analphabeten beobachteten die Forscher, was sich in deren Gehirn veränderte, sobald sie lesen und schreiben lernten.
Ergebnis: Anders als bisher angenommen, werden durch diesen Lernprozess Umstrukturierungen in Gang gesetzt, die bis in den Thalamus und den Hirnstamm hinein reichen. Im Vergleich zur verhältnismäßig sehr jungen Schrift des Menschen verändern sich also Regionen, die evolutionär gesehen recht alt sind. Je länger ein Mensch liest und über Jahre darin Übung hat, desto besser wird seine „Leseecke“im Gehirn ausgestattet, seine Lesefähigkeiten nehmen zu.
Die Forscher untersuchten diese Zusammenhänge in Indien, einem Land mit einer Analphabetenrate von etwa 39 Prozent. Hier sind es vor allem die Frauen, denen der Zugang zu Schulbildung und damit zum Lesen und Schreiben verwehrt bleibt, sodass an der Studie ausschließlich Frauen teilnahmen, alle im Alter zwischen 24 und 40 Jahren.
Ein Großteil der Teilnehmerinnen konnte zu Beginn des Trainings kein einziges Wort in ihrer Sprache Hindi entziffern. Nach sechs Monaten Unterricht erreichten die Teilnehmerinnen bereits ein Niveau von Erstklasslern. „Dieser Wissenszuwachs ist bemerkenswert“, sagt Huettig. „Obwohl es für uns als Erwachsene sehr schwierig ist, eine neue Sprache zu lernen, scheint für das Lesen anderes zu gelten. Das erwachsene Gehirn stellt hier seine Formbarkeit unter Beweis.“
Die Studienergebnisse werfen ein neues Licht auf die Ursachen der Lese-Rechtschreib-Störung. Bisher wurden Fehlfunktionen des Thalamus angenommen. Da man nun weiß, dass sich der Thalamus bereits nach wenigen Monaten Lesetraining verändert, muss diese Theorie hinterfragt werden.