Für Musik soll man „ruhig das Gehirn bemühen“
Ein Unbeugsamer sein Leben lang: Der streitbare und umstrittene Dirigent Michael Gielen feiert seinen 90. Geburtstag.
Er war, wie er selbst zugibt, oft schroff und hart zu den Musikern, er wurde „der Unbeugsame“genannt und hielt mit seinen dezidierten Meinungen nie hinter dem Berg. Michael Gielen war „Außenseiter“von Anfang an, schon als „Halbjude“in der Schule in Österreich, dann in seinem künstlerischen Wesen, in Werdegang und Karriere, da er sich mit unerschütterlicher Konsequenz für die neue Musik einsetzte, welche – Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre – oft noch wie ein Feindbild gesehen wurde, sowohl bei den Musikern als auch beim Publikum.
Als umstrittener, aber unbeugsamer Verfechter neuer Sichtweisen auf der Opernbühne prägte er gemeinsam mit dem Dramaturgen und späteren Opernchef Klaus Zehelein von 1977 bis 1987 die Oper Frankfurt; Inszenierungen von Ruth Berghaus oder Hans Neuenfels – legendär der Skandal um „Aida“, in der die in Ägypten als Sklavin gehaltene äthiopische Königstochter mit dem Putzkübel hantierte und die Gefangenen beim als hohle Staatsmusik entlarvten Triumphmarsch mit Hühnerbeinen warfen – sind heute Ikonen des modernen Musiktheaters, und die zehn Frankfurter Jahre sind als „Ära Gielen“in die Geschichte eingegangen.
Deutlichkeit, Transparenz, Formgefühl: Das war die Dreieinigkeit seiner Interpretationshaltung. Diese forderte er nicht nur von sich, sondern mit gleichzeitig harter, aber auch sorgender Hand auch von seinen Studenten, die er von 1987 bis 1995 am Salzburger Mozarteum im Handwerk des Dirigierens unterwies. Rigoros und kompromisslos blieb er auch sich selbst gegenüber: Um keinen Preis der Welt wollte er mit Kunst beruhigen. Musik sollte, so hielt er es mit Beethoven, Feuer aus den Köpfen schlagen, sie sollte Wahrheit erkennen lassen, die nicht immer angenehm sein kann, und für sie „darf man ruhig das Gehirn bemühen“. Das trug ihm nicht selten den Vorwurf eines gleichsam „herzlosen“Analytikers ein. Michael Gielens Großtaten haben sich gleichwohl in die Interpretationsgeschichte eingeschrieben: vor allem die 1965 gegen massive Widerstände durchgesetzte Uraufführung der als unspielbar geltenden Oper „Die Soldaten“von Bernd Alois Zimmermann in Köln, aber auch seine oft unbequemen Ansichten etwa zu Beethoven, Bruckner oder Mahler, seine nach Frankfurt zweite stilprägende „Ära“als Chef des SWR-Symphonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, das durch die Fusion mit Stuttgart mittlerweile de facto aufgelöst ist.
Als Komponist sah sich Michael Gielen immer nur nebenberuflich. Er habe „nur aus innerer Notwendigkeit“geschrieben, sein letztes Stück, für Klavier solo, datiert aus 2001. Gleichwohl brauchten wir „ganz dringend“etwas Neues, nicht nur in der Musik, meinte Gielen vor sieben Jahren, als ihm die Salzburg Biennale einen Komponisten„Zoom“einrichtete. Er selbst hielt damals schon die meisten neuen Werke, die er kannte, für „regressive Musik“. Und er machte auch vor den Größen der Moderne nie einen Kotau, überzog sie oft mit galligen, pointierten Bemerkungen: Den zu den Sternen gelangten Karlheinz Stockhausen stichelte er nieder. „Als er den Sirius entdeckte und genau wusste, was da passiert und wie man die Menschheit retten kann, da habe ich aufgehört, mich für ihn zu interessieren.“
Am 20. Juli feiert der geehrte Siemens-Preisträger Michael Gielen, der sich aus der Öffentlichkeit seit etlichen Jahren zurückgezogen hat, seinen 90. Geburtstag. Seine Produktionsfirma Hänssler legt sein dirigentisches Vermächtnis sukzessive in zehn prallen Boxen neu auf. Seine unbeugsame Stimme und was sie mit und über Musik zu sagen hat, wird man also weiter vernehmen können. Wir bleiben hellhörig.