Die Karten spielen mächtig Schicksal
Unter dunklen Wolken füllt „Carmen“die Kassa der Bregenzer Festspiele nicht nur als Spektakel, sondern auch als Kunstwerk.
BREGENZ. Eine Seebühnenpremiere in Bregenz, noch dazu im ersten Jahr einer Neuinszenierung, abzusagen, käme wohl einer mittleren Katastrophe gleich. Bei einer Verlegung ins Haus müssten gut 5000 Besucher nach Hause geschickt werden. Also trotzten die Verantwortlichen am Mittwoch den dunkel drohenden Gewitterwolken und schickten zu Bizets „Carmen“die Hundertschaften an Künstlern und die Tausendschaften des Publikums, vom Bundespräsidenten abwärts, in den siebzig Minuten lang oft strömenden Regen. Erst im Schmugglerakt hatte der Niederschlag ein Einsehen, sodass auch alle tollkühnen Kletterstunts in der Spielkartenlandschaft von Es Devlin sicher und spektakulär durchgeführt werden konnten.
Denn wie immer auf der Seebühne ist das Bühnenbild der Star der Aufführung. Für zwei Jahre ist es nun wieder das kulturelle Wahrzeichen am Bodensee.
Die international renommierte Ausstatterin spektakulärer Showbühnen hat zwei Frauenarme entworfen, die gut ein Dutzend Spielkarten, jede im Maß von 4,30 mal 7 Metern, in großem Bogen in die Luft werfen. Raffinierte Videos von Luke Halls blättern darauf Spielkartenmotive auf, zeigen aber auch pittoresk sängerische und tänzerische Aktionen in den farbenprächtigen Kostümen von Anja Vang Kragh. Die Karten stehen symbolhaft für den Akt der Anarchie, mit dem Carmen gegen alle gesellschaftlichen Zwänge rebelliert. Für sie zeigen sie nicht die Liebe (l’Amour), sondern den Tod (la Mort). 28 flach gestapelte Karten bilden die Spielfläche; das Fehlen von Schrägen erleichtert womöglich das Bespielen bei Regen.
Natürlich kann man auf einem
Die Herren können mit Gaëlle Arquez als Carmen nicht mithalten
solchen Areal kein dramatisches Kammerspiel allein inszenieren, sondern muss die Erzählung plakativ vergrößern. Kasper Holten, der zum ersten Mal in Bregenz arbeitete, bekommt die Dimensionen trotzdem gut ausgewogen zwischen Masse und Klasse in den Griff, auch wenn dem Zeitlimit von zwei Stunden pausenloser Spieldauer durch die Kürzung fast aller Dialoge die Stringenz der Geschichte deutlich abhandenkommt. Man sieht somit mehr ein Opernpotpourri populärer Melodien als ein Musikdrama.
Unter den gegebenen äußeren Umständen fällt es schwer, die sängerischen Leistungen gerecht zu bewerten. Keine Frage: Gaëlle Arquez ist als Carmen mit lodernden Vokalfarben und ungebremst intensivem Spiel das Zentrum. Ihre Energie wirkt in jeder Phase ansteckend. Ihr ebenbürtig: Elena Tsallagova als mehr als nur rührende Micaëla, die ihre glockige Stimme sogar aus höchsten Bühnenhöhen quasi schwindelfrei einsetzen kann.
Die Herren können da nicht mithalten. Daniel Johansson als Don José gibt viel Druck, kämpft mit Intonation und den unbequemen Höhen, die Tonlage ist ihm leider nicht gnädig. Scott Hendricks hat in der ohnedies undankbaren Rolle des Escamillo den Zenit seiner baritonalen Eleganz doch deutlich überschritten. Befeuert werden Sänger und Bühne vom Temperament Paolo Carignanis, der die im Trockenen sitzenden, mit raffinierter Technik aus dem Haus zugespielten Wiener Symphoniker dynamisch impulsiv zu zündend feurigem Musizieren anhält. Da überträgt sich die nötige Hitze und Leidenschaft in bestens dosiertem Maß auch in den Regen. Am Ende, nachdem Don José Carmen spektakulär filmreif im See ertränkt hat (Gaëlle Arquez spielt die „Leiche“schonungslos), durften sich über den „getrockneten“Applaus nicht nur Protagonisten, sondern auch die Trägerinnen und Träger der kleineren, aber immer wichtigen Partien – bis zum Moralès des Salzburgers Rafael Fingerlos – und die mächtigen Chöre ungeteilt freuen. „Carmen“wird die Kassen füllen, nicht nur als Spektakel, sondern auch als Kunstwerk. Bregenz kann’s.