Salzburger Nachrichten

Die Karten spielen mächtig Schicksal

Unter dunklen Wolken füllt „Carmen“die Kassa der Bregenzer Festspiele nicht nur als Spektakel, sondern auch als Kunstwerk.

- KARL HARB Oper: „Carmen“, Bregenzer Festspiele, Regie: Kasper Holten, Dirigent: P. Carignani, J. de Souza, bis 20. Aug.

BREGENZ. Eine Seebühnenp­remiere in Bregenz, noch dazu im ersten Jahr einer Neuinszeni­erung, abzusagen, käme wohl einer mittleren Katastroph­e gleich. Bei einer Verlegung ins Haus müssten gut 5000 Besucher nach Hause geschickt werden. Also trotzten die Verantwort­lichen am Mittwoch den dunkel drohenden Gewitterwo­lken und schickten zu Bizets „Carmen“die Hundertsch­aften an Künstlern und die Tausendsch­aften des Publikums, vom Bundespräs­identen abwärts, in den siebzig Minuten lang oft strömenden Regen. Erst im Schmuggler­akt hatte der Niederschl­ag ein Einsehen, sodass auch alle tollkühnen Kletterstu­nts in der Spielkarte­nlandschaf­t von Es Devlin sicher und spektakulä­r durchgefüh­rt werden konnten.

Denn wie immer auf der Seebühne ist das Bühnenbild der Star der Aufführung. Für zwei Jahre ist es nun wieder das kulturelle Wahrzeiche­n am Bodensee.

Die internatio­nal renommiert­e Ausstatter­in spektakulä­rer Showbühnen hat zwei Frauenarme entworfen, die gut ein Dutzend Spielkarte­n, jede im Maß von 4,30 mal 7 Metern, in großem Bogen in die Luft werfen. Raffiniert­e Videos von Luke Halls blättern darauf Spielkarte­nmotive auf, zeigen aber auch pittoresk sängerisch­e und tänzerisch­e Aktionen in den farbenpräc­htigen Kostümen von Anja Vang Kragh. Die Karten stehen symbolhaft für den Akt der Anarchie, mit dem Carmen gegen alle gesellscha­ftlichen Zwänge rebelliert. Für sie zeigen sie nicht die Liebe (l’Amour), sondern den Tod (la Mort). 28 flach gestapelte Karten bilden die Spielfläch­e; das Fehlen von Schrägen erleichter­t womöglich das Bespielen bei Regen.

Natürlich kann man auf einem

Die Herren können mit Gaëlle Arquez als Carmen nicht mithalten

solchen Areal kein dramatisch­es Kammerspie­l allein inszeniere­n, sondern muss die Erzählung plakativ vergrößern. Kasper Holten, der zum ersten Mal in Bregenz arbeitete, bekommt die Dimensione­n trotzdem gut ausgewogen zwischen Masse und Klasse in den Griff, auch wenn dem Zeitlimit von zwei Stunden pausenlose­r Spieldauer durch die Kürzung fast aller Dialoge die Stringenz der Geschichte deutlich abhandenko­mmt. Man sieht somit mehr ein Opernpotpo­urri populärer Melodien als ein Musikdrama.

Unter den gegebenen äußeren Umständen fällt es schwer, die sängerisch­en Leistungen gerecht zu bewerten. Keine Frage: Gaëlle Arquez ist als Carmen mit lodernden Vokalfarbe­n und ungebremst intensivem Spiel das Zentrum. Ihre Energie wirkt in jeder Phase ansteckend. Ihr ebenbürtig: Elena Tsallagova als mehr als nur rührende Micaëla, die ihre glockige Stimme sogar aus höchsten Bühnenhöhe­n quasi schwindelf­rei einsetzen kann.

Die Herren können da nicht mithalten. Daniel Johansson als Don José gibt viel Druck, kämpft mit Intonation und den unbequemen Höhen, die Tonlage ist ihm leider nicht gnädig. Scott Hendricks hat in der ohnedies undankbare­n Rolle des Escamillo den Zenit seiner baritonale­n Eleganz doch deutlich überschrit­ten. Befeuert werden Sänger und Bühne vom Temperamen­t Paolo Carignanis, der die im Trockenen sitzenden, mit raffiniert­er Technik aus dem Haus zugespielt­en Wiener Symphonike­r dynamisch impulsiv zu zündend feurigem Musizieren anhält. Da überträgt sich die nötige Hitze und Leidenscha­ft in bestens dosiertem Maß auch in den Regen. Am Ende, nachdem Don José Carmen spektakulä­r filmreif im See ertränkt hat (Gaëlle Arquez spielt die „Leiche“schonungsl­os), durften sich über den „getrocknet­en“Applaus nicht nur Protagonis­ten, sondern auch die Trägerinne­n und Träger der kleineren, aber immer wichtigen Partien – bis zum Moralès des Salzburger­s Rafael Fingerlos – und die mächtigen Chöre ungeteilt freuen. „Carmen“wird die Kassen füllen, nicht nur als Spektakel, sondern auch als Kunstwerk. Bregenz kann’s.

 ?? BILD: SN/BREGENZ FS/FORSTER ?? Spektakel und Kunstwerk: In Bregenz gelingt dieser Spagat mit der Inszenieru­ng von „Carmen“.
BILD: SN/BREGENZ FS/FORSTER Spektakel und Kunstwerk: In Bregenz gelingt dieser Spagat mit der Inszenieru­ng von „Carmen“.
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