Tag 85 Alles offen am
Die ÖVP liegt in Umfragen derzeit deutlich voran, doch das sind Momentaufnahmen. Welche Gegenstrategie die SPÖ hat und warum ein angeblicher FPÖ-Ausrutscher den Grünen schadet.
WIEN. Wer gewinnt die Wahl? Diese Frage ist derzeit – 85 Tage vor dem 15. Oktober – ebenso häufig wie unbeantwortbar. Dabei spricht die Meinungsforschung scheinbar eine klare Sprache. Eine diese Woche veröffentlichte Umfrage sah die Kurz-ÖVP bei 35 Prozent und damit um zehn Prozentpunkte vor SPÖ und FPÖ. Die ÖVP verfügt über noch bessere Umfragen, die sie gar nicht zu veröffentlichen wagt, weil sie selbst nicht daran glaubt.
Zu Recht, denn fast drei Monate vor einer Wahl kann die Demoskopie lediglich Momentaufnahmen liefern. Und momentan ist die Stimmung für den ÖVP-Spitzenkandidaten extrem günstig. Erstens weil er neu ist. Und zweitens, weil ihm die Themenlage stark entgegenkommt. Solange die Migrationskrise Thema Nummer eins ist, kann Kurz, der sich als Schließer der Balkanund demnächst auch Mittelmeerroute inszeniert, voll punkten.
Die SPÖ hat dem wenig entgegenzusetzen, da sie in dieser Frage komplett zerstritten ist. Wenn der rechte SPÖ-Flügel Panzer auf den Brenner dirigieren will, ist der linke SPÖ-Flügel entsetzt. Um das unter einen Hut zu bringen, muss Parteichef Christian Kern einen Zickzackkurs fahren, mit dem sich keine Wahl gewinnen lässt.
Oberstes Ziel der SPÖ ist es daher, eine andere Themenlage zu schaffen, die für sie günstiger und für Kurz ungünstiger ist. Pensionistenchef Karl Blecha, der seit den 60er-Jahren SPÖ-Wahlkämpfe führt, hat das längst erkannt und mit einer Pensionisten- und „Soziale Kälte“-Kampagne gegen Kurz begonnen. Das wird die ÖVP in Umfragen bald zu spüren bekommen, denn ihre Haltung in der Pensionsfrage – „Das Pensionsalter muss steigen“– ist wesentlich unpopulärer als die SPÖ-Marschrichtung „Frühpension für alle“.
Überhaupt besteht für die Konkurrenten der ÖVP kein Grund zur Hoffnungslosigkeit. Schon oft sah die ÖVP am Beginn wie der sichere Sieger aus, verschlief deshalb den Wahlkampf und landete am Ende im geschlagenen Feld.
Doch selbst wenn die ÖVP auf Platz eins landen sollte, heißt das noch lang nicht, dass Sebastian Kurz auch Kanzler wird. SPÖ und FPÖ stehen einander inhaltlich wesentlich näher als jede der beiden Parteien der ÖVP. Und nach der Wende im Jahr 2000 gibt es keine Garantie mehr, dass Platz eins zwingend ins Kanzleramt führt. In der ÖVP sieht man diese Gefahr, hofft aber, dass der Vorsprung von Kurz am Wahlabend so groß sein wird, dass in der Kanzlerfrage gar kein Weg an ihm vorbeiführt.
Doch bis zur Regierungsbildung, die zu einer der schwierigsten der Zweiten Republik werden dürfte, ist es noch ein weiter Weg. Und er ist mit Unwägbarkeiten gepflastert. Wenn beispielsweise weitere Berichte über echte oder angebliche verbale Entgleisungen von FPÖ-Abgeordneten auftauchen, wird das jene Kräfte in der SPÖ stärken, die eine Koalition mit der FPÖ vehement ablehnen. Das würde die Wahrscheinlichkeit einer schwarzblauen Regierung erhöhen. Der FPÖ kann diese Debatte nur recht sein, denn sie holt die Blauen ins Zentrum des Wahlkampfes zurück. Nach dem Antreten von Kurz als ÖVP-Chef hatte die FPÖ ihren bereits angestammten Platz als Sieger aller Umfragen verloren. HeinzChristian Strache wurde vorausgesagt, dass er im Kanzlerduell Kern gegen Kurz zerrieben werde. Vor diesem Schicksal bewahren ihn nun SPÖ und ÖVP, indem sie dem jeweils anderen vorwerfen, an nichts anderes zu denken als an eine Koalition mit Strache.
Eine weitere Unwägbarkeit ist die Entwicklung bei den Kleinparteien. Tritt Peter Pilz – wonach es definitiv aussieht – mit einer eigenen Liste an, kommt das einer Spaltung der Grünen gleich. Ob es dann beide Parteien über die vier Prozent und damit in den Nationalrat schaffen, ist fraglich. Als möglicher Koalitionspartner der SPÖ scheidet das grüne Lager bei einer Pilz-Abspaltung jedenfalls so gut wie aus, es sei denn, man denkt an Dreier- oder gar Viererkoalitionen.
Wie sehr in einem Wahlkampf alles mit allem zusammenhängt, zeigt Folgendes: Als die SPÖ sich kürzlich die Option einer Koalition mit der FPÖ eröffnete, herrschte bei den Grünen Jubel. Sie glaubten, sie könnten nun als einzige „Kraft gegen rechts“in den Wahlkampf ziehen und entsprechend Stimmen sammeln. Nach der Meldung über die mögliche FPÖ-Entgleisung könnte die SPÖ nun aber auch wieder zur „Kraft gegen rechts“werden. So entsteht die kuriose Situation, dass eine verbale Entgleisung der FPÖ die Wahlchancen der Grünen schmälert.
Den Neos wiederum hat der Wechsel an der Spitze der ÖVP geschadet. Sebastian Kurz übt auf mögliche Neos-Wähler eine ganz andere Anziehungskraft aus, als dies Michael Spindelegger 2013 getan hatte. Auch für die Neos wird sich daher die Vier-Prozent-Frage stellen. Auch sie werden allenfalls als Partner in einer Dreier- oder Vierkoalition in Betracht kommen.
Doch in den 85 Tagen bis zur Nationalratswahl kann noch viel geschehen. Die intensive Phase des Wahlkampfs mit aggressiver Themensetzung, gegenseitigen Skandalisierungsversuchen und persönlichen Untergriffen hat noch gar nicht richtig begonnen.