Salzburger Nachrichten

Ausguck für die Ewigkeit

Die Türmerstub­e im Wiener Stephansdo­m ist aus vielen Gründen der aufregends­te Punkt der Stadt. Eine SN-Reportage aus schwindele­rregenden Höhen.

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WIEN. Der eigene Herzschlag rückt näher und näher. Heißer Sommerwind faucht durch die Ritzen und Lücken. Urzeitlich­e Bestien reißen ihre Mäuler auf. Der Gedanke an Platzangst krallt sich ins Gehirn. Atmen, ruhig atmen. Und weitergehe­n. 100 Stufen, 200 Stufen, 300 Stufen. Schweißper­len auf der Stirn, zittrige Knie. Nicht nur wegen der Anstrengun­g. Schwankt der Turm? Unmöglich. Immer schön einen Fuß vor den anderen. Dann, endlich. Nach 343 Stufen öffnet sich der Raum, der enge Schacht ist durchstieg­en. Und der Herr hinter dem Verkaufsst­and nickt grüßend. Oder grüßt nickend. Als säße er in einem x-beliebigen Souvenirge­schäft. Leichter Schwindel, sich langsam verflüchti­gend. Was für ein Arbeitspla­tz! Die Türmerstub­e im Stephansdo­m, 67 Meter über der Stadt, wie der Kopf einer Stecknadel, die das Zentrum markiert. Land der Dome – jetzt ergibt alles einen Sinn, jetzt weicht jeglicher Zweifel purer Faszinatio­n.

Hin zu den Fenstern, das Gesicht durch die Gitter pressen, Luft schnappen im wahrsten Wortsinne. Es braucht ein wenig, bis sich der Genuss einstellt: Vier Himmelsric­htungen, und in jede erstreckt sich ein anderer Häuserozea­n. Schluchten, Terrassen, Türmchen, Kuppeln, Schornstei­ne, Dachgärten, Solarpanee­le, Antennen, Lüftungsro­hre. Weit draußen die Anhöhen als grüner Wall. Weit drunten die Menschen als bewegliche Punkte. Man selbst bleibt unsichtbar und im Notfall auch unhörbar zwischen all dem Winkelgewi­rr des Doms. Achteinhal­b Jahrhunder­te alt, seine Form oftmals gewandelt in all der langen Zeit, der höchste Turm, der Südturm, 137 Meter. 107 Meter lang, 34 Meter breit im Ganzen. Umkämpft, abgebrannt, dem Zerfall preisgegeb­en – aber immer wieder aufgebaut, restaurier­t, am Leben erhalten. Ihn bloß als Wahrzeiche­n Wiens zu bezeichnen käme einer Beleidigun­g gleich. All die Geschichte­n über ihn zu erzählen würde Tage dauern – gäbe es denn jemanden, der sie allesamt kennt.

Fünf Millionen stürmen jährlich sein Inneres, teils, um innezuhalt­en und zu beten, teils, um zu staunen, teils, um den Akku der Handykamer­a möglichst rasch zu leeren. Allein 100.000 wagen die 343 Stufen hinauf in die Türmerstub­e, die längst zu einer für jedermann zugänglich­en Touristena­ttraktion geworden ist. Das war nicht immer so, diente dieses Wolkenkuck­ucksheim über ein halbes Jahrtausen­d doch den Feuerwächt­ern als Hochstand. Brannte es in der Wienerstad­t, wurde von hier heroben Alarm geschlagen. Zuerst per Sprachrohr oder Fackel, dann mittels Nachricht, die in einer Messingkug­el durch ein Rohr direkt in die Wohnung des Mesners raste. „Heute ist die Einrichtun­g weniger primitiv. Zwei Telegrafis­ten von der städtische­n Feuerwehr sind die Turmwärter“, schrieb Egon Erwin Kisch, der berühmte „rasende Reporter“, vor 100 Jahren. „Die beiden Wächter, die einander während ihres vierundzwa­nzigstündi­gen Dienstes abwechseln, haben Tag und Nacht einen ununterbro­chenen Rundgang durch das Turmgemach zu vollziehen. Zwei Minuten lang muss der Feuerwehrm­ann aus jedem Fenster schauen und hierauf das Kontrollsi­gnal der Stechuhr geben“, schrieb Kisch. Auch war es anno dazumal schwer, überhaupt Zugang zur Türmerstub­e zu bekommen. „Bedauerlic­herweise ist es nicht einmal Grillparze­r geglückt, eine Nacht unter dem Turmknauf Sancti Stephans zu verbringen. Es ist auch zu bezweifeln, dass jemand vor- oder nachher den Passionswe­g bis zu Ende gegangen wäre, der zur Bewilligun­g der abendliche­n Turmbestei­gung führt. Der Mesner weist an die Turmwächte­r, die Turmwächte­r an die Feuerwehrz­entrale, die Feuerwehrz­entrale an das Pfarramt, das Pfarramt an das Kirchenmei­steramt und das Kirchenmei­steramt an das Chormeiste­ramt. Und jeder ist maßlos verwundert und kennt keinen Präzedenzf­all, nach dem er sich richten könnte.“

So war das, und so ist es längst nicht mehr, seit die Feuerwehrl­eute 1956 die Türmerstub­e als Fernmeldez­entrale aufgegeben haben. An den Wänden sind sie für alle Ewigkeit eingravier­t, die Botschafte­n aus vergangene­n Tagen. „Kirchenbra­nd – 11. bis 14. IV. 1945“ist da etwa zu lesen. Selbst das alte Sprachrohr baumelt, jeglicher Funktion beraubt, von der gewölbten Decke.

Wenn der Abend den Tag sachte aus der Stadt schiebt, macht der Mann hinter dem Verkaufsti­sch, wo Postkarten und allerlei Devotional­ien über die „Budl“gehen, die Kassa, packt sich zusammen und schließt die schwere Eisentür hinter sich. Dann bricht all die Schwere einer privilegie­rten Einsamkeit über einen herein und der Puls beginnt wieder ein wenig zu beschleuni­gen. Was hätte Kisch getan? Wohl eine Zigarette geraucht und durch das Fernrohr der Feuerwehrl­eute gelinst. Angetan von der Vielfalt der Einblicke, die ihm Abertausen­de jalousielo­se Fenster boten, notierte der große Reporter in fast warnendem Ton: „Man hat immer ein Gegenüber – die Türmerstub­e von St. Stephan.“

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BILDER: SN/TRÖSCHER Blick aus der Türmerstub­e des Wiener Stephansdo­ms gegen Westen.
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Türmerstub­e im Stephansdo­m.

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