Elf auf einen Streich
Thüringen. Wer dem Radfernweg von Stadt zu Stadt folgt, erlebt zwischen Burgen und Mohnblumen wundersam Kunstvolles.
Die alten Fachwerkhäuschen haben ihr tristes DDR-Grau längst gegen einen farbenfrohen Anstrich getauscht. Edle Schätze wurden aus Verstecken geholt und museumsreif aufpoliert. Wo früher Trabis tuckerten, saust heute ein E-Bike um die Ecke, und von der Burg wird fröhlich das weiße Porzellan in den Abgrund geworfen. Wundern steht beim Radeln durch Thüringen auf dem Tagesprogramm. Jede Etappe ist erfrischend anders, genauso wie die Städte und Kulturschätze entlang des Radfernwegs. Aufgesattelt wird in Eisenach im Schatten der Wartburg. Hinter den dicken Mauern der Festung übersetzte einst Martin Luther das Neue Testament, Richard Wagner wurde zu seiner Oper „Tannhäuser“inspiriert, die heilige Elisabeth erlebte ihr Rosenwunder und Minnesänger lieferten sich melodische Gefechte mit romantischen Worten. Ganz schön viel los hier, und vom dunklen Mittelalter kann auch keine Rede sein. So kurzweilig breiten sich tausend Jahre Geschichte aus in diesen prunkvollen Räumen. Vor den Burgmauern hingegen ist die Sonne im Einsatz. Wie auf Kommando schiebt sie die Regenwolken beiseite und lenkt die Aufmerksamkeit auf die lieblichen Hügel des Thüringer Waldes. Diesen Ausblick bedachte schon Goethe mit dem Wort „überherrlich“. Hier ist nichts hinzuzufügen.
Flankiert von Mohnblumen rollen die Räder vorbei an Burgen und Bächen bis nach Gotha, zum Schloss Friedenstein. Die barocken Gemäuer sind bis zum Dachgiebel mit Kunst und Skurrilitäten gefüllt. Aber all das ist nichts im Vergleich zum alten Schlosstheater und seinen Bühnenmaschinen aus dem 17. Jahrhundert. Wenn das Glöckchen ertönt, hält das Publikum seinen Atem an. 15 starke Männer bauen die Kulisse innerhalb von Sekunden um. Sie drehen die Windmaschine, lassen für den Donner Kugeln einen Holzschacht hinabpoltern und imitieren das prasselnde Geräusch des Regens mit getrockneten Erbsen. Ein Schauspiel für alle Sinne. So wie die Bühne hier knarrt und krächzt auch der Holzboden im Oberbackhaus im nahe liegenden Wechmar. Hier hat sich der Ururgroßvater von Johann Sebastian Bach als Bäcker und Spielmann niedergelassen, und noch heute dreht sich im kleinen Dörfchen alles um die musikalische Familie. Akribisch wird ihr Stammbaum dokumentiert, der an die 1500 Personen aus aller Welt umfasst. „Es ist eine Wissenschaft für sich“, schmunzelt Annett Bückinx, wenn sie ihre Gäste durchs Stammhaus führt. Insgeheim ist sie froh, dass nicht jeder Bach so fruchtbar war wie der berühmte Komponist. Der hatte immerhin 20 Kinder. „Wir sind der Ursprung der Bach’schen Musikalität“, heißt es hier stolz. Denn mit dem Klappern des Mühlrads hätten die Bachs den Takt der Musik gelernt. Nette Theorie. Auf jeden Fall ein angenehmer Rhythmus, der Genussstrampler zügig nach Erfurt bringt.
Herausgeputzte Fassaden, verwinkelte Gässchen und gemütliche Gastgärten am Flussufer – Erfurts Altstadt begeistert Radler auf Anhieb. Selbst wenn die Räder über spitze Pflastersteine zur Krämerbrücke holpern. Mit 120 Metern Länge und 32 Häusern ist sie die längste komplett bebaute Brückenstraße Europas. Leider müssen die vielen kleinen Läden warten, denn es gibt noch einen Schatz zu entdecken. Dieser ist im Gewölbe der alten Synagoge zu finden und erst seit Kurzem zu bestaunen. Vor fünf Jahren wurden die Gold- und Silbermünzen sowie der aufwendig gearbeitete jüdische Schmuck zufällig bei Bauarbeiten gefunden. Thüringen steckt eben voller Überraschungen.
Feuerfestes Glas aus Jena und Wunder der Porzellankunst auf der Leuchtenburg, die Statue des Erlkönigs und schließlich Weimar. Das ist sowieso „voll Werther“, wie die jungen Leute hier sagen. Luther, Goethe, Schiller und Monroe – alle waren schon da. An jeder Ecke lauert eine amüsante Episode aus dem Leben der kunstsinnigen Gäste. Wer davon nichts mehr hören will, setzt sich einfach in den Park oder geht ins Open-AirKonzert, wo statt Klassik dann zur Abwechslung kanadischer Jazz erklingt.
In Altenburg werden die Radler mit Brunnenwasser in Form von Hochprozentigem empfangen. Als Auftakt für ein altes Ritual: Skatkarten in die Hand nehmen, unter das – diesmal echte – Brunnenwasser halten und die Schnauze des Messingschweins streicheln. Klingt seltsam, soll aber ein gutes Blatt bringen. Vor 200 Jahren erfanden die Altenburger das Skatspiel – und hatten Glück damit. Noch immer werden hier Spielkarten produziert. Herz ist Trumpf entlang des Städtekette-Radwegs. Kein Wunder, dass so am Ende der Tour durch Deutschlands Mitte die anfängliche Verwunderung zu schwärmerischer Bewunderung wird.