Wörter zu Kafkas Geschichten weben
„Kafkas Sohn“. Szilárd Borbély umkreist Franz Kafka und das osteuropäische Judentum.
Der Roman „Die Mittellosen“des ungarischen Prosa-Autors und Lyrikers Szilárd Borbély war ein literarisches Ereignis von internationaler Dimension. Der Autor hat den Erfolg nicht mehr erlebt – als vor zwei Jahren die deutsche Übersetzung erschienen ist, hatte er sich bereits das Leben genommen. Jetzt ist „Kafkas Sohn“aus dem Nachlass herausgegeben worden. Der Titel ist doppeldeutig: Zum einen wird Franz Kafka als Sohn seines Vaters gezeigt. Der „Brief an den Vater“ist die Hintergrundfolie dafür.
Kafkas Vater-Sohn-Konstellation ist für Borbély vor allem in Bezug auf die jüdische Herkunft relevant: Kafkas Großvater war noch im Judentum verankert, Kafkas Vater, der Kaufmann, wollte sich davon emanzipieren, doch Franz Kafka selbst interessierte sich für seine jüdischen Wurzeln. In ähnlicher Weise, aber unter anderen Umständen war auch für Szilárd Borbély das Judentum eine Komponente seiner Identitätssuche.
Zum anderen ist die Vater-Sohn-Konstellation die wichtigste Identifikationsschiene von Szilárd Borbély mit Leben und Werk Kafkas. Er ist Kafkas Sohn. Die Kafka-Lektüre muss ihn wie ein Blitz getroffen haben. Biografische Fakten und Fantasien über Kafkas Leben, Texte Kafkas und Zitate aus Briefen wurden für ihn zum Zündfunken für eine Prosa eigener Art. Dabei dockt Borbély keineswegs nur individualbiografisch an Kafka an. „Dieser Roman spielt in Osteuropa“, lautet der erste Satz des Buches, und das Wort „Osteuropa“kehrt in den ersten Texten wie ein Ostinato wieder: als Landschaftsund Lebensparameter, als bestimmender Hintergrund für die Muster, wie „Söhne zu Vätern werden und die Vorwürfe vergessen, die sie in der Kindheit und Jugend gegen die Welt der Väter vorbrachten“.
„Dieser Roman spielt in Osteuropa.“– Einige Seiten später erfährt der erste Satz des Buches eine Fortsetzung: „In Wirklichkeit ist es gar kein Roman und spielt auch nirgendwo. Er erzählt keine Ereignisse, wie ein Roman sonst Geschichten erzählt, er möchte ihm nur ähneln. In Wirklichkeit erzählt er vom Reisen. Vom Reisen Kafkas, der mit Kafka nicht identisch ist.“
Ob sich die edierten Fragmente zu einem Roman gefügt hätten, lässt sich nicht sagen. Es bleibt unklar, welche Richtung die Gesamtkomposition genommen hätte, zudem brechen einzelne Texte an bestimmten Stellen ab. Zwischen zweien von ihnen findet sich ein Kafka-Brief, man weiß nicht, wie Borbély ihn in seine Prosa integriert hätte. Trotz dieser schmerzlichen Unabgeschlossenheit war es richtig, das nachgelassene Fragment zu edieren und zu übersetzen. Nicht nur, weil „Kafkas Sohn“die Wurzeln von Borbélys Schreiben freilegt und zeigt, wozu er als Schriftsteller noch imstande gewesen wäre. Das Buch hat seinen großen Wert durch die Qualität der einzelnen Texte. Viele von ihnen verwandeln sich Kafkas Texte, vor allem aber Fakten oder Dokumente aus seinem Leben souverän.
Es gibt aber auch viele Prosastücke, die weit über Kafka hinausführen, etwa der dichte zweiseitige Text „Das Ehepaar Schnee“, der subtil die Begegnung zweier Schneeflocken beschreibt. Oder „Das Geheimnis der Sphinx“, wo die ÖdipusGeschichte neu erzählt wird. Auch „Nebukadnezars Schweigen“, die großartige Geschichte vom verrückten König, ist nur lose mit Kafka verbunden. Doch im Grunde wird immer wieder Kafka umkreist.
In „Kafka beim Rabbi“legt Szilárd Borbély Franz Kafka Worte in den Mund, die wohl auch für sein eigenes Schreiben Gültigkeit haben: „Ich will Geschichten erzählen, Rabbi, ich habe begriffen, dass mich das Schreiben nur retten kann, wenn ich Geschichten erzähle. Für mich haben die Wörter nur einen Sinn, wenn sie mich vor dem Leben schützen, und sie vermögen mich vor dem Leben nur zu schützen, wenn ich sie zu Geschichten weben kann, und zwar zu Geschichten, die meine eigenen Spuren, die ich zwischen den Wörtern zurücklassen könnte, auslöschen.“
Das Nachwort des Übersetzers Lacy Kornitzer bietet erste Interpretationslinien an und macht eine wesentliche Bemerkung: „Zu Kafkas Zeit war Prag eine westliche Stadt. Borbély ist das Kind einer anderen Zeit in einer gänzlich anderen Atmosphäre.“Wichtig ist der Schlusssatz des Nachworts: „Auf der Suche nach einem Glauben ist Borbély auf Kafka gestoßen.“
Heike Flemming, die zweite Übersetzerin, zeichnet Borbélys Kafka-Lektüre und die Entstehung des Fragments nach. Sie beschreibt, wo die Identifikation mit Kafka angesiedelt war: „Das Schreiben als manisch betriebene Tätigkeit, um der Umwelt, der Welt zu begegnen“. Und im Bezug zum jüdischen Großvater. Bei Borbély ist aus dem Interesse für die eigenen jüdischen Wurzeln eine Empathie für das Schicksal der ungarischen Juden gewachsen. Dass ihm das in Ungarn zum Vorwurf gemacht wurde, zeigt die erschreckende politische und kulturelle Situation.