Vollgas im Rückwärtsgang im Nahen Osten
Am Tempelberg in Jerusalem endet die Vernunft aller Beteiligten. Religion und Symbolkraft sind wichtiger.
Der Kult auf dem Tempelberg war vor Jahrtausenden ein gewaltiger Fortschritt. Hier entstand erstmals ein abstrakter Glaube, der im Gegensatz zu seinem Umfeld Menschenopfer verbot. Doch was die Menschen in dieser Region von einst verstanden, scheint den Landesbewohnern 2017 abzugehen.
Dabei schien es, als würde dieses Jahr alles besser. Israel war wieder ruhig. Der Tourismus schrieb Rekordzahlen. Die Kooperation zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) wurde besser: Man einigte sich auf den Bau eines neuen Elektrizitätswerks im Westjordanland und die Verbesserung der Wasserversorgung. Im Hinblick auf die radikalislamische Hamas in Gaza koordinierte man enger.
Doch dann kam ein unüberlegter Schritt am Tempelberg. Der Ort, an dem das rationale Urteilsvermögen aller Beteiligten aussetzt. Wieder einmal lassen sich Israels Regierung und die arabische Welt von der emotionalen, religiösen und symbolischen Bedeutung des Tempelbergs blenden.
Der Beschluss der israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu, Metalldetektoren aufzustellen, ist ebenso verständlich wie dumm – weil ineffektiv. Wer seine Waffen nicht bis in die Al-Aksa-Moschee schmuggeln kann, wird eben ein Attentat vor ihren Toren begehen. So wird die Lage nicht sicherer. Stattdessen trat ein, wovor Armee und Inlandsgeheimdienst warnten. Araber interpretierten die ineffektive Maßnahme so, wie es Israels Falken meinten: als Demonstration jüdischer Souveränität am heikelsten Ort in Nahost. Scharfmacher nutzten die Gelegenheit, beide Seiten noch mehr anzustacheln. Pragmatiker müssen nachziehen, um nicht als Verräter zu gelten. Darunter findet sich PA-Präsident Mahmud Abbas. Für ihn wäre es jetzt lebensgefährlich, als Kollaborateur Israels zu wirken. Auch Premier Benjamin Netanjahu hat nur schlechte Optionen: Hält er an den neuen Sicherheitsvorkehrungen am Tempelberg fest, geht die Eskalation weiter. Arabische Pragmatiker werden geschwächt, Zusammenarbeit erschwert.
Gibt er klein bei, würde dies als Erfolg der Extremisten und ihrer Gewalt gelten – und Netanjahu von der eigenen Koalition in der Luft zerrissen.
Die zweite Hälfte des Jahres 2017 dürfte bei Weitem ungemütlicher werden als die erste. Bei den jüngsten Attentaten gaben die palästinensischen Täter an, Rache für die Ereignisse in Jerusalem nehmen zu wollen. Weitere werden folgen. Der Tempelberg ist kein Symbol des Friedens mehr.