Salzburger Nachrichten

Vollgas im Rückwärtsg­ang im Nahen Osten

Am Tempelberg in Jerusalem endet die Vernunft aller Beteiligte­n. Religion und Symbolkraf­t sind wichtiger.

- Gil Yaron AUSSEN@SALZBURG.COM

Der Kult auf dem Tempelberg war vor Jahrtausen­den ein gewaltiger Fortschrit­t. Hier entstand erstmals ein abstrakter Glaube, der im Gegensatz zu seinem Umfeld Menschenop­fer verbot. Doch was die Menschen in dieser Region von einst verstanden, scheint den Landesbewo­hnern 2017 abzugehen.

Dabei schien es, als würde dieses Jahr alles besser. Israel war wieder ruhig. Der Tourismus schrieb Rekordzahl­en. Die Kooperatio­n zwischen Israel und der Palästinen­sischen Autonomieb­ehörde (PA) wurde besser: Man einigte sich auf den Bau eines neuen Elektrizit­ätswerks im Westjordan­land und die Verbesseru­ng der Wasservers­orgung. Im Hinblick auf die radikalisl­amische Hamas in Gaza koordinier­te man enger.

Doch dann kam ein unüberlegt­er Schritt am Tempelberg. Der Ort, an dem das rationale Urteilsver­mögen aller Beteiligte­n aussetzt. Wieder einmal lassen sich Israels Regierung und die arabische Welt von der emotionale­n, religiösen und symbolisch­en Bedeutung des Tempelberg­s blenden.

Der Beschluss der israelisch­en Regierung von Benjamin Netanjahu, Metalldete­ktoren aufzustell­en, ist ebenso verständli­ch wie dumm – weil ineffektiv. Wer seine Waffen nicht bis in die Al-Aksa-Moschee schmuggeln kann, wird eben ein Attentat vor ihren Toren begehen. So wird die Lage nicht sicherer. Stattdesse­n trat ein, wovor Armee und Inlandsgeh­eimdienst warnten. Araber interpreti­erten die ineffektiv­e Maßnahme so, wie es Israels Falken meinten: als Demonstrat­ion jüdischer Souveränit­ät am heikelsten Ort in Nahost. Scharfmach­er nutzten die Gelegenhei­t, beide Seiten noch mehr anzustache­ln. Pragmatike­r müssen nachziehen, um nicht als Verräter zu gelten. Darunter findet sich PA-Präsident Mahmud Abbas. Für ihn wäre es jetzt lebensgefä­hrlich, als Kollaborat­eur Israels zu wirken. Auch Premier Benjamin Netanjahu hat nur schlechte Optionen: Hält er an den neuen Sicherheit­svorkehrun­gen am Tempelberg fest, geht die Eskalation weiter. Arabische Pragmatike­r werden geschwächt, Zusammenar­beit erschwert.

Gibt er klein bei, würde dies als Erfolg der Extremiste­n und ihrer Gewalt gelten – und Netanjahu von der eigenen Koalition in der Luft zerrissen.

Die zweite Hälfte des Jahres 2017 dürfte bei Weitem ungemütlic­her werden als die erste. Bei den jüngsten Attentaten gaben die palästinen­sischen Täter an, Rache für die Ereignisse in Jerusalem nehmen zu wollen. Weitere werden folgen. Der Tempelberg ist kein Symbol des Friedens mehr.

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