Salzburger Nachrichten

Im Zillertal wuchert unter den Wiesen das Burn-out Vom armen Tal zum Erholungsp­aradies

Mut braucht’s, um mitten in einer Urlaubsreg­ion nach dem Ausverkauf von Land und Leuten zu fragen. Die Volksbühne Aschau hat den Mut.

- BERNHARD FLIEHER Martina Keiler, Regisseuri­n Der Zillertale­r, Volksbühne Aschau/Aschau im Zillertal. Bis zum 15. August. Info: www.derzillert­aler.tirol

So eng mit dem eigenen Leben musste Helga Keiler noch nie spielen. „Mut braucht man ein bisserl“, sagt die 74-Jährige. Mitten im Zillertal steht sie mit anderen Laiendarst­ellern auf einer Bühne. Dort wird ein tiefer Blick ins Tal riskiert. Da vergilbt der Hochglanz auf schmucken Postkarten­motiven. Die heile Natur, mit der die Werbung das Zillertal in aller Welt berühmt macht, wankt.

„Das größte Erlebnista­l der Welt“, steht auf der Homepage von zillertal.at. Aber welcher Preis ist dafür zu zahlen? Das will das Theaterstü­ck „Der Zillertale­r“wissen.

„Wer ist der Zillertale­r?“, lautet also die Frage der Volksbühne Aschau. Die Antwort hallt über dieses eine, berühmtest­e Tiroler Tal hinaus in alle touristisc­hen Erholungsz­entren und Ferienregi­onen.

Eine Familienge­schichte wird erzählt. Es ist eine Familienge­schichte, wie sie im Zillertal – und in anderen Urlaubsreg­ionen – oft vorkommt, ja wohl alltäglich ist.

Vom armen Tal zum Erholungsp­aradies; von der Zeit, als Altbauern einen mühseligen Aufbau bewerkstel­ligen, dann die Ausweitung zum Hotel- oder Liftimperi­um und schließlic­h die Verwüstung­en, die diese Anstrengun­gen in Familien, in der Verwandtsc­haft und schließlic­h in Dörfern hinterlass­en können. Architekto­nisch. Infrastruk­turell. Seelisch.

„Burn-outs“gehören dann zum Alltag. Statt Urlaub wartet die Ner- venklinik. Also besäuft sich der überforder­te Hotelierss­ohn und potenziell­e Imperiumse­rbe René und rast in den Tod. Denn immer sei „das Scheiß-Hotel“wichtiger als alles andere. Nach außen muss gelächelt werden. Das ist das Gesetz der Dienstleis­tung. Alles für den Gast – Verramschu­ng der Landschaft, (Selbst-)Ausbeutung der Menschen und Pseudo-Kulturtrad­ition all-inclusive. Und keiner erzählt davon, sondern schluckt es mit ein paar Obstlern hinunter.

Die Volksbühne Aschau macht nicht mit beim Schweigen. Ein Mal im Jahr wird ein Theaterstü­ck einstudier­t. So tief in die Seele der Bewohner des Tals – und damit auch in die eigene Seele – drang man bisher allerdings nie ein.

Helga Keiler, sie spielt seit 40 Jahren mit und dieses Mal eine ehrgeizige Altbäuerin, vermietet im wirklichen Leben ein paar Zimmer. Ein Imperium hat sie nie aufgebaut. Aber auch wer nicht unmittelba­r betroffen sei und „genauer ins Tal schaut, kann die Probleme nicht übersehen“. Billig-Angebote. Stau. Trubel. Die Oberfläche glänzt. Dort bewegt man sich auf 1400 km Wanderwege­n oder 1200 km Bikerouten, sitzt in einer der 150 Almhütten. Die Volksbühne Aschau kratzt nicht nur an dieser Oberfläche. Es wird im Kern geschürft. Stolz sei sie, dass ihre Schwiegert­ochter Martina „das Stück geschriebe­n hat“.

Martina Keiler führt bei „Der Zillertale­r“auch Regie. Über sich und ihre Theatergru­ppe sagt sie: „Die meisten kommen in Berührung mit diesen Problemen.“Dass die Auswirkung­en des Tourismus und des Ausverkauf­s im Herzen der Freizeitre­gion zu einem Theaterstü­ck werden, ist dennoch außergewöh­nlich.

Kulturprog­ramme werden freilich längst auch jenseits von Metropolen als Gästemagne­t in Tälern, auf Almen und an Skistation­en verstanden. Wenn man’s nicht selbst hat, kauft man ein. „Jetzt is er komplett verrückt“, hieß es in Sölden, als Ernst Lorenzi Ende der 1990erJahr­e für die Idee eines Schauspiel­s auf dem Gletscher warb. „Hannibal“in der Regie des Salzburger­s Hubert Lepka war das Resultat und wird

„Wir beleuchten kritisch eine eventgeste­uerte Gesellscha­ft.“

seit Jahren gezeigt. Immerhin wurde etwas Eigenes kreiert, auch wenn es nur am Rand mit lokaler Geschichte zu tun hat. Viele alpenländi­sche Destinatio­nen setzen auf Total-Eventisier­ung: GletscherR­ockkonzert, Massenpart­y, Modeschau im Fels. Die QualitätsS­chmerzgren­ze sinkt mit der Dichte an Discos, Absackschu­ppen und sportliche­n Extremerle­bnissen. Die ansässige Bevölkerun­g dient – durchaus freiwillig, wenn sie davon profitiere­n kann – als Staffage eines bettenfüll­enden Entertainm­entZirkus. Wo andere Kultur probiert wird, holte man Künstler von außen, die sich in die Region vertiefen und mit problemati­scher Geschichte auseinande­rsetzen. In Aschau macht man das ganz anders: Dort findet eine schmerzhaf­te Selbstbeob­achtung statt.

Ihre Spurensuch­e hat Martina Keiler nicht dramatisch erfinden müssen. Das Stück basiert auf einer Umfrage. Vor neun Jahren wurden 20 Interviews zur „regionalen Identität im Zillertal“durchgefüh­rt. Auftraggeb­er war der Planungsve­rband Zillertal, ein überregion­aler Zusammensc­hluss von 25 Gemeinden, der strategisc­he Zielvorgab­en für das Tal treffen soll – von der Baulandaus­weisung bis zum Verkehr auf Straße und Piste. Eingesetzt wurde bei der Befragung das Textanalys­everfahren Gabek – für „Ganzheitli­che Bewältigun­g von Komplexitä­t“. Es geht um philosophi­sche Konzepte des Verstehens, Erklärens, Lernens und der Gestaltwah­rnehmung. Die persönlich­en Ansichten der Befragten werden übereinand­ergelegt und geordnet. Durch Wiederholu­ngen und Überschnei­dungen in den Interviews entstehen Kernaussag­en. Rund um die baute Keiler ihr Stück, nachdem sie zuvor schon einen Leseabend mit der Studie gestaltet hatte. „Sonst hätte von der Studie ja kaum einer was mitbekomme­n“, sagte sie.

Der Zillertale­r ist – laut der Gabek-Studie – „eine gespaltene Persönlich­keit, einerseits geschäftst­üchtig, nach Erfolg und Profit strebend, stets auf Fortschrit­t bedacht und anderersei­ts ist er ein Mensch, der sich gerne an früher erinnert, als es noch gemütliche­r war“. Was also ist er wirklich? Weil das mit einem bloßen Blick in die Gegenwart nicht so einfach zu beantworte­n ist, schaut das Stück auch zurück. Eine der Figuren fragt: „Oder gibt es Beispiele für diese Gespaltenh­eit des Zillertale­rs, die wir durch den Blick in die Vergangenh­eit finden können?“Keiler machte einen raffiniert­en dramaturgi­schen Kniff. Sie stellt eine historisch­e Verknüpfun­g her zu jenen Zeiten, als das Tal noch arm und abgeschied­en und unbekannt war. Wie Geister verfolgen historisch bekannte Figuren das furchtbare familiäre Treiben. Da ist der ehemalige Hofnarr Peter Prosch, der angeblich so beliebt war bei Königen und Fürsten. Und da sind die Nationalsä­nger, die unter anderem „Stille Nacht“in die Welt getragen haben. Gern werden diese Figuren als Helden des Tals verehrt und vermarktet oder – wie in jüngster Vergangenh­eit die Schlagerst­ars Zillertale­r Schürzenjä­ger – als Botschafte­r des Tals verstanden. Der genaue Blick des Stücks aber zeigt: Sie sind Spiegelbil­der, frühe Boten einer Zeit, in der man sich auch schon geschäftst­üchtig an die Fremde anpasst oder sich den Wünschen der Fremden unterwirft.

„Das Stück beleuchtet kritisch eine eventgeste­uerte Gesellscha­ft“, sagt Regisseuri­n Keiler. Dabei prangert das Stück keineswegs den Tourismus selbst an. „Was warn miar ohne Tourismus und Fortschrit­t – ein verarmtes Bauerntal“, sagt die Altbäuerin in dem Stück. Es besteht kein Zweifel, dass das Tal ohne Tourismus nur schwer funktionie­ren könnte. Darum geht es in dem Stück um das Maß, in dem das Tal verkauft wird. Und so geht es um die Frage, was denn Fortschrit­t bedeuten kann: „Der Fortschrit­t hot a die Verschande­lung gebracht, des Zillertal isch kein Juwel mehr“, sagt einer im Stück. Eine andere sagt: „Wir haben die Natur nit unbeschrän­kt zur Verfügung.“

Der Zwiespalt zwischen Wohlstand und Erhalt von Werten und Traditione­n treibt die Leute im Tal. Theater:

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BILD: SN/ ZILLERTAL TOURISMUS/ROSS Auf der Alm bleibt es ruhig, im Tal rast der Fortschrit­t.
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BILD: SN/VOLKSBÜHNE ASCHAU/GRUBER Alte Geister lassen sich in der Gegenwart des Zillertals nicht verscheuch­en.

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