Im Zillertal wuchert unter den Wiesen das Burn-out Vom armen Tal zum Erholungsparadies
Mut braucht’s, um mitten in einer Urlaubsregion nach dem Ausverkauf von Land und Leuten zu fragen. Die Volksbühne Aschau hat den Mut.
So eng mit dem eigenen Leben musste Helga Keiler noch nie spielen. „Mut braucht man ein bisserl“, sagt die 74-Jährige. Mitten im Zillertal steht sie mit anderen Laiendarstellern auf einer Bühne. Dort wird ein tiefer Blick ins Tal riskiert. Da vergilbt der Hochglanz auf schmucken Postkartenmotiven. Die heile Natur, mit der die Werbung das Zillertal in aller Welt berühmt macht, wankt.
„Das größte Erlebnistal der Welt“, steht auf der Homepage von zillertal.at. Aber welcher Preis ist dafür zu zahlen? Das will das Theaterstück „Der Zillertaler“wissen.
„Wer ist der Zillertaler?“, lautet also die Frage der Volksbühne Aschau. Die Antwort hallt über dieses eine, berühmteste Tiroler Tal hinaus in alle touristischen Erholungszentren und Ferienregionen.
Eine Familiengeschichte wird erzählt. Es ist eine Familiengeschichte, wie sie im Zillertal – und in anderen Urlaubsregionen – oft vorkommt, ja wohl alltäglich ist.
Vom armen Tal zum Erholungsparadies; von der Zeit, als Altbauern einen mühseligen Aufbau bewerkstelligen, dann die Ausweitung zum Hotel- oder Liftimperium und schließlich die Verwüstungen, die diese Anstrengungen in Familien, in der Verwandtschaft und schließlich in Dörfern hinterlassen können. Architektonisch. Infrastrukturell. Seelisch.
„Burn-outs“gehören dann zum Alltag. Statt Urlaub wartet die Ner- venklinik. Also besäuft sich der überforderte Hotelierssohn und potenzielle Imperiumserbe René und rast in den Tod. Denn immer sei „das Scheiß-Hotel“wichtiger als alles andere. Nach außen muss gelächelt werden. Das ist das Gesetz der Dienstleistung. Alles für den Gast – Verramschung der Landschaft, (Selbst-)Ausbeutung der Menschen und Pseudo-Kulturtradition all-inclusive. Und keiner erzählt davon, sondern schluckt es mit ein paar Obstlern hinunter.
Die Volksbühne Aschau macht nicht mit beim Schweigen. Ein Mal im Jahr wird ein Theaterstück einstudiert. So tief in die Seele der Bewohner des Tals – und damit auch in die eigene Seele – drang man bisher allerdings nie ein.
Helga Keiler, sie spielt seit 40 Jahren mit und dieses Mal eine ehrgeizige Altbäuerin, vermietet im wirklichen Leben ein paar Zimmer. Ein Imperium hat sie nie aufgebaut. Aber auch wer nicht unmittelbar betroffen sei und „genauer ins Tal schaut, kann die Probleme nicht übersehen“. Billig-Angebote. Stau. Trubel. Die Oberfläche glänzt. Dort bewegt man sich auf 1400 km Wanderwegen oder 1200 km Bikerouten, sitzt in einer der 150 Almhütten. Die Volksbühne Aschau kratzt nicht nur an dieser Oberfläche. Es wird im Kern geschürft. Stolz sei sie, dass ihre Schwiegertochter Martina „das Stück geschrieben hat“.
Martina Keiler führt bei „Der Zillertaler“auch Regie. Über sich und ihre Theatergruppe sagt sie: „Die meisten kommen in Berührung mit diesen Problemen.“Dass die Auswirkungen des Tourismus und des Ausverkaufs im Herzen der Freizeitregion zu einem Theaterstück werden, ist dennoch außergewöhnlich.
Kulturprogramme werden freilich längst auch jenseits von Metropolen als Gästemagnet in Tälern, auf Almen und an Skistationen verstanden. Wenn man’s nicht selbst hat, kauft man ein. „Jetzt is er komplett verrückt“, hieß es in Sölden, als Ernst Lorenzi Ende der 1990erJahre für die Idee eines Schauspiels auf dem Gletscher warb. „Hannibal“in der Regie des Salzburgers Hubert Lepka war das Resultat und wird
„Wir beleuchten kritisch eine eventgesteuerte Gesellschaft.“
seit Jahren gezeigt. Immerhin wurde etwas Eigenes kreiert, auch wenn es nur am Rand mit lokaler Geschichte zu tun hat. Viele alpenländische Destinationen setzen auf Total-Eventisierung: GletscherRockkonzert, Massenparty, Modeschau im Fels. Die QualitätsSchmerzgrenze sinkt mit der Dichte an Discos, Absackschuppen und sportlichen Extremerlebnissen. Die ansässige Bevölkerung dient – durchaus freiwillig, wenn sie davon profitieren kann – als Staffage eines bettenfüllenden EntertainmentZirkus. Wo andere Kultur probiert wird, holte man Künstler von außen, die sich in die Region vertiefen und mit problematischer Geschichte auseinandersetzen. In Aschau macht man das ganz anders: Dort findet eine schmerzhafte Selbstbeobachtung statt.
Ihre Spurensuche hat Martina Keiler nicht dramatisch erfinden müssen. Das Stück basiert auf einer Umfrage. Vor neun Jahren wurden 20 Interviews zur „regionalen Identität im Zillertal“durchgeführt. Auftraggeber war der Planungsverband Zillertal, ein überregionaler Zusammenschluss von 25 Gemeinden, der strategische Zielvorgaben für das Tal treffen soll – von der Baulandausweisung bis zum Verkehr auf Straße und Piste. Eingesetzt wurde bei der Befragung das Textanalyseverfahren Gabek – für „Ganzheitliche Bewältigung von Komplexität“. Es geht um philosophische Konzepte des Verstehens, Erklärens, Lernens und der Gestaltwahrnehmung. Die persönlichen Ansichten der Befragten werden übereinandergelegt und geordnet. Durch Wiederholungen und Überschneidungen in den Interviews entstehen Kernaussagen. Rund um die baute Keiler ihr Stück, nachdem sie zuvor schon einen Leseabend mit der Studie gestaltet hatte. „Sonst hätte von der Studie ja kaum einer was mitbekommen“, sagte sie.
Der Zillertaler ist – laut der Gabek-Studie – „eine gespaltene Persönlichkeit, einerseits geschäftstüchtig, nach Erfolg und Profit strebend, stets auf Fortschritt bedacht und andererseits ist er ein Mensch, der sich gerne an früher erinnert, als es noch gemütlicher war“. Was also ist er wirklich? Weil das mit einem bloßen Blick in die Gegenwart nicht so einfach zu beantworten ist, schaut das Stück auch zurück. Eine der Figuren fragt: „Oder gibt es Beispiele für diese Gespaltenheit des Zillertalers, die wir durch den Blick in die Vergangenheit finden können?“Keiler machte einen raffinierten dramaturgischen Kniff. Sie stellt eine historische Verknüpfung her zu jenen Zeiten, als das Tal noch arm und abgeschieden und unbekannt war. Wie Geister verfolgen historisch bekannte Figuren das furchtbare familiäre Treiben. Da ist der ehemalige Hofnarr Peter Prosch, der angeblich so beliebt war bei Königen und Fürsten. Und da sind die Nationalsänger, die unter anderem „Stille Nacht“in die Welt getragen haben. Gern werden diese Figuren als Helden des Tals verehrt und vermarktet oder – wie in jüngster Vergangenheit die Schlagerstars Zillertaler Schürzenjäger – als Botschafter des Tals verstanden. Der genaue Blick des Stücks aber zeigt: Sie sind Spiegelbilder, frühe Boten einer Zeit, in der man sich auch schon geschäftstüchtig an die Fremde anpasst oder sich den Wünschen der Fremden unterwirft.
„Das Stück beleuchtet kritisch eine eventgesteuerte Gesellschaft“, sagt Regisseurin Keiler. Dabei prangert das Stück keineswegs den Tourismus selbst an. „Was warn miar ohne Tourismus und Fortschritt – ein verarmtes Bauerntal“, sagt die Altbäuerin in dem Stück. Es besteht kein Zweifel, dass das Tal ohne Tourismus nur schwer funktionieren könnte. Darum geht es in dem Stück um das Maß, in dem das Tal verkauft wird. Und so geht es um die Frage, was denn Fortschritt bedeuten kann: „Der Fortschritt hot a die Verschandelung gebracht, des Zillertal isch kein Juwel mehr“, sagt einer im Stück. Eine andere sagt: „Wir haben die Natur nit unbeschränkt zur Verfügung.“
Der Zwiespalt zwischen Wohlstand und Erhalt von Werten und Traditionen treibt die Leute im Tal. Theater: