Der Himmel öffnet seine Schleusen auch für Durchreisende
Das Klangforum Wien und die Tallis Scholars verknüpften bei den Salzburger Festspielen 500 Jahre Musikgeschichte.
SALZBURG. Wie komponiert man den Weltuntergang? Mit dieser Frage setzte sich Gérard Grisey in seiner letzten Komposition „Quatre Chants pour franchir le seuil“auseinander. Der Komponist, der seine Werke als „Schwellenmusik“bezeichnete, hat sich im Todesjahr 1998 der äußersten Schwelle gewidmet – jener vom Leben in den Tod.
In der Salzburger Kollegienkirche findet die Festspiel-Konzertreihe „Zeit mit Grisey“eine sinnfällige Spielstätte. Fünf Konzerte erklingen in diesem Ambiente, dessen Akustik Interpreten und Hörern so viel Raum bietet. Raum, den die Schlagzeuger Lukas Schiske und Björn Wilker am Montagabend im perkussiven Duett „Stèle“für ein markantes Frage-Antwort-Spiel nutzten. Unhörbares hörbar machen: Darum ging es dem Vorreiter der Spektralmusik, der seit den frühen 1970ern die Wirkung und Wahrnehmung von Klängen untersucht hatte. Im Frühwerk anhand elektroakustischer Forschungen, 25 Jahre später am Klang selbst.
Im Liedzyklus „Quatre Chants“entsteht die Verfremdung aus den Reibungen, die sich aus dem mikrotonalen Parallelslalom einzelner Stimmen ergeben. Zu Beginn deklamiert die Sopranistin Katrien Baerts noch Silbe für Silbe, legt das gesprochene Wort über die fein schwebenden Orchesterflächen, die das Klangforum Wien unter der Leitung von Emilio Pomàrico produziert. Über die kryptisch-fragmentarischen Texte findet das Gespann zur Schwelle ins Jenseits: „Wer den Himmel durchreist … bis an die Enden des Himmels“, heißt es da. Der Klang erodiert. Perkussive Zwischenmusik durchläuft das Schattenreich, bis – im letzten der vier Gesänge – der Weltuntergang kommt. Die Klangforum-Bläser verdichten den Klang massiv, wenn die Sintflut den „Tod der Menschheit“aus dem Gilgamesch-Epos bringt. Zuletzt verfällt Grisey wieder in den naiv-glockigen Ton seines Lehrmeisters Olivier Messiaen. Es scheint überstanden zu sein.
Flankiert wurde dieses gewichtige, mitunter magische Hörerlebnis in der Kollegienkirche von zwei Sakralwerken der frankoflämischen Musik. Ein halbes Jahrtausend liegt zwischen Griseys Abgesang und Johannes Ockeghems „Missa pro defunctis“, der wohl ersten notierten Totenmesse. Nichts scheint diese vierstimmigen Klänge aus dem Gleichgewicht zu bringen, die das historisch informierte Vokalensemble The Tallis Scholars homogen und doch voller Plastizität zu Gehör bringt. Erst in den Höllenqualen des finalen „Offertorium“ wechselt der engelsgleiche Chor ins Eindringliche.
Die Zeitreise in die Gründerzeit der Polyphonie hätte sich noch stärker mit den Werken des Neutöners Grisey verbinden können, doch das verhinderten zwei Pausen. Für den Endpunkt dieses Nachtkonzerts, Josquin Desprez’ himmlische „Missa de Beata Virgine“, wurde die Kollegienkirche geräumt und durfte erst nach einer kurzen Dusche unter der Himmelsschleuse wieder betreten werden. Dennoch blieben zwei Drittel der zuvor gut gefüllten Kollegienkirche besetzt. Ein Beweis für die Qualität der Interpreten. Einmal noch offenbarten die Tallis Scholars ihre Vokalkunst, ehe die Zuhörer kurz nach Mitternacht aus dem Wachtraum gerissen wurden.