Aus dem engen Tal in die weite Welt
Woher kommen eigentlich die Spitzenkandidaten zur Nationalratswahl? Was hat sie in ihrer Jugend geprägt? Eine Spurensuche. Heute: Die Heimat des Matthias Strolz.
DALAAS, WIEN. Die fast unendlich scheinende Wasserfläche des Bodensees im Dreiländereck mit dem weiten Blick nach Deutschland und in die Schweiz – das vergrößert den Horizont. Die Industrie- und Gewerbegebiete des Rheintals am Fuße der hohen Berge – das vermittelt die Einsicht, dass Urbanität und Natur kein Widerspruch sein müssen. Altes und neues Geld. Traditionsbewusste Alteingesessene und fleißige Neuzugewanderte: Vorarlberg bietet sehr viel auf engem Raum. Das kleine Land liegt in der Mitte des Kontinents und im Schnittpunkt der Kulturen. Und es tickte immer schon ein wenig anders als der Rest Österreichs, von dem Vorarlberg mehr trennt als nur der namensgebende hohe Berg.
Vieles ist tatsächlich anders in diesem Land, in dem der Landeshauptmannstellvertreter „Landesstatthalter“heißt. Die SPÖ beispielsweise gibt es hier nur in Spurenelementen, sie funktioniert hier einfach nicht. Dafür funktionieren andere Dinge. Jahrzehntelang, und auch zu Zeiten, als die FPÖ in anderen Bundesländern als nicht hoffähig galt, gab es hier eine schwarzblaue Zusammenarbeit. 2009 hingegen, als die FPÖ in ganz Österreich langsam in Richtung Regierungsfähigkeit rückte, flog sie in Vorarlberg nach einem antisemitischen Sager aus der Landesregierung. Seit 2014 regieren die Schwarzen mit den Grünen – also jener Partei, die hier im Jahr 1984 erstmals in einen österreichischen Landtag eingezogen war. Was eine politische Sensation war in einer Zeit, als Österreich über ein festgezimmertes Parteiensystem verfügte und Wählerbewegungen von mehr als zwei Prozentpunkten als politischer Erdrutsch galten. Es ist kein Zufall, dass das ausgerechnet in Vorarlberg passierte.
Es wird wohl ist auch kein Zufall sein, dass dieses Land Matthias Strolz hervorgebracht hat, den Gründer, Chef und Spitzenkandidaten der Neos. Einer Partei, die anders sein will als die anderen und die angetreten ist, alte Zöpfe abzuschneiden.
Das Klostertal. Eine Kirche, ein Heimatmuseum, ein kleines Dorf namens Wald am Arlberg, das zusammen mit dem nahen Dalaas eine Gemeinde bildet. Viel Berge und viel Natur – aber die Westbahnstrecke und die Arlbergschnellstraße jederzeit in Sichtweite. Ein für Vorarlberg nicht untypischer Kontrast. Hier ist Matthias Strolz aufgewachsen, gleich bei besagtem Heimatmuseum. Die Mutter Bergbäuerin, der Vater „einfacher Angestellter in der Textilbranche“, wie der Parteiund Klubchef der Neos in seinem Buch „Mein neues Österreich“berichtet.
Matthias Strolz hat studiert und ist fortgezogen. Sein Jugendfreund Martin Drißner hat das Tischlerhandwerk erlernt und ist dageblieben. Heute leitet er seinen eigenen feinen Tischlereibetrieb, er vermietet Gästezimmer und er erinnert sich. Matthias Strolz, der Nachbarbub, sei immer schon der Anführer gewesen, in der Schule und im Dorf, erzählt Drißner. Matthias habe immer das Gespräch mit den Menschen gesucht. Er spielte, wie es sich gehört, in der Harmoniemusik Wald am Arlberg, richtete den Blick aber bald weit hinaus aus dem Tal.
Ähnlich sieht es Alexander Kaiser, ebenfalls ein Jugendfreund von Matthias Strolz. Auch Kaiser ist, wie Tischlermeister Drißner und im Gegensatz zu Strolz, in Wald geblieben. „Ich habe hier praktisch das Paradies vor Augen“, sagt er. Kaiser hat den richtigen Blick dafür, er arbeitet als freiberuflicher Fotograf, der Ski- und sonstige Tourismus versorgt ihn mit Aufträgen. „Dass Matthias in der Politik gelandet ist, wundert mich nicht“, sagt er. Das Klostertal sei dem strebsamen jungen Mann „zu eng“gewesen, der Sprung nach Wien kam nicht überraschend. So weit Alexander Kaiser, der mit Strolz in der Schule saß.
Strolz absolvierte eine klassische politische Laufbahn. Landesschulsprecher, Chefredakteur der Studentenzeitschrift, ÖH-Vorsitzender der Uni Innsbruck, schon während seines Doktoratsstudiums als Coach und Seminarleiter tätig. Vorübergehend Mitarbeiter der ÖVP, die ihm aber, ähnlich wie sein Heimattal, bald zu eng wurde. „Als der Matthias seine eigene Partei gründete, war mir klar: Er wird es schaffen“, sagt Tischlermeister Drißner. Die Leute im Klostertal haben ihm dabei geholfen, in der ansonsten tiefschwarzen Gemeinde Dalaas/Wald erzielten die Neos bei der Nationalratswahl fast 40 Prozent. „Diese Gegend hier hat Strolz geprägt, die Menschen haben ihm die Treue gehalten“, sagt Drißner.
Die Menschen hier haben wohl nicht nur aus Zuneigung zu Strolz die Neos gewählt. Mit seiner nicht zuletzt gegen die dominierende ÖVP gerichteten liberal-bürgerlichen Politik hat der Neos-Chef bei seinen Landsleuten einen Nerv getroffen. Tischler Martin Drißner erzählt von den Schwierigkeiten, gute Mitarbeiter zu finden. „Wir sind zu zweit und könnten dringend einen Dritten brauchen“, sagt er. Aber woher nehmen in einer Zeit und in einer Welt, in der das Handwerk kein Ansehen mehr genieße? Auch in Wald und Umgebung wird es den ansässigen Unternehmern nicht leicht gemacht, das Handwerk zurückgedrängt, in den vergangenen Jahren mussten etliche Tischlereibetriebe den Industriebetrieben weichen. Wirtshaus gebe es keines mehr in Wald. „Die Klein- und Mittelbetriebe sind das Fundament unseres Landes. Wenn es die nicht mehr gibt – was bleibt dann?“, fragt Drißner. Viele seiner Sätze könnten von Strolz stammen. Und umgekehrt. Der Neos-Chef scheint viele Anregungen aus dem Kontakt mit den alten Freunden der Heimat zu beziehen.