Salzburger Nachrichten

„Der Islam ist nicht nur eine Religion“

Ob der Islam zu Deutschlan­d gehört, wird im deutschen Wahlkampf heftig diskutiert. Wie viel Einfluss haben die Türkei und Saudi-Arabien?

- Islam – kritische Anfragen

Die Islamkriti­kerin Necla Kelek erläutert im SN-Gespräch, warum aus ihrer Sicht die Reformkräf­te im Islam kaum Bedeutung haben. SN: Warum haben die Aufrufe zu Friedensde­mos so wenig Erfolg bei den in Deutschlan­d lebenden Muslimen gehabt? Kelek: Die meisten Muslime – organisier­t oder nicht organisier­t – gehen zuerst einmal davon aus, dass sie nicht dafür verantwort­lich sind, was im Namen des Islam passiert. Die Organisier­ten behaupten, Gewalt habe nichts mit dem Islam zu tun. Die Nichtorgan­isierten sagen: Wieso bin ich dafür verantwort­lich? Ich habe niemandem etwas getan. Sie fühlen sich nicht angesproch­en und weigern sich, Verantwort­ung zu übernehmen.

Das ist so, wie wenn Deutsche nichts mit den Nazis zu tun hätten. Wer soll dann Verantwort­ung übernehmen für etwas, das im Namen der eigenen Kultur geschehen ist? SN: Sind die Muslime in Deutschlan­d mehrheitli­ch konservati­v? Ungefähr die Hälfte ist säkular, die andere sehr traditione­ll. Letztere glaubt ohne Wenn und Aber an den Islam. Es wird nicht reflektier­t. Es werden keine kritischen Fragen gestellt. Sie haben Moscheen gegründet und erziehen die Kinder in ihrem Sinn. Die andere Hälfte behauptet, säkular zu sein, konsumiert Alkohol. Aber auch diese Gruppe setzt sich mit dem Islam nicht kritisch auseinande­r. SN: Ist im Islam eine Reformatio­n wie im Christentu­m denkbar? Alle Religionen sind von Menschen gemacht. Sie haben die Pflicht, in der Zeit, in der sie leben, die eigene Religion zu hinterfrag­en und gegebenenf­alls zu verändern. Reform heißt ja, dass man ein Ziel hat, wo man hinwill. Im Islam ist es noch nicht so weit, weil die traditione­llen Muslime sehr stark sind und jede Reform verhindern. SN: Wird der deutsche Islam zu sehr vom türkischen Religionsm­inisterium Diyanet geprägt? Nicht nur. Denn auch die anderen Moscheen sind nicht unabhängig. Aber Diyanet in Ankara steuert die Moscheen in Deutschlan­d komplett. Sie schickt die Imame und bezahlt sie. So wird derzeit AKP-Politik nach Deutschlan­d vermittelt. SN: Gibt es andere Abhängigke­iten? Es gibt Milli Görüş. Die werden vermutlich auch von Saudi-Arabien und Katar finanziert. Sie sind internatio­naler aufgestell­t. Aber auch der Zentralrat der Muslime wird u.a. von arabischen Ländern finanziert. Es könnte eine unabhängig­e Moschee in Deutschlan­d geben, die die Frauenrech­tlerin Seyran Ateş vor Kurzem in Berlin gegründet hat. Dafür erhält sie jetzt Morddrohun­gen. SN: Warum hat es die unabhängig­e Moschee so schwer? Seyran Ateş ist Vorreiteri­n, weil sie es geschafft hat, für ihre liberale Moschee fortschrit­tliche kritische Theologen zu gewinnen, die bereit sind, diese Idee mitzutrage­n. Die anderen Moscheen schweigen dazu, weil sie einen traditione­llen und reaktionär­en Islam pflegen und z. B. das Märtyrertu­m nach wie vor vermitteln. Die Imame distanzier­en sich nicht von den Gewaltsure­n im Koran. Sie setzen auf Abgrenzung gegenüber dem Westen.

Die muslimisch­e Welt und ihre Repräsenta­nten setzen nicht auf Fortschrit­t in Wissenscha­ft und Lehre. In der muslimisch­en Welt haben wir daher eher Verlierer. Die muslimisch­e Welt kann mit dem Fortschrit­t nicht mithalten. Die Traditiona­listen sagen, der Westen hat zwar die Technik, aber wir haben unseren Glauben und darum wird es uns im Paradies gut gehen. Das ist eine ganz gefährlich­e Lehre, die Kindern in diesen Moscheen beigebrach­t wird. SN: Der Islam hat keine zentrale Organisati­on wie die christlich­en Kirchen. Daher könnte er vielfältig­er sein. Dennoch prägen Ultrakonse­rvative das Bild. In der islamische­n Welt gibt es verschiede­ne Strömungen, aber sie sind alle im Namen des ursprüngli­chen Islam. Es gibt überhaupt keine Richtung, die eine liberalere Ausrichtun­g zugelassen hätte. Es gibt zwar keinen Papst, aber wir haben die Fatwa. Und wir haben den Wahhabismu­s, der die muslimisch­e Welt kontrollie­rt. Die islamistis­chen Länder haben kein Interesse an einer Liberalisi­erung. Denn dann müssten sie in ihren Ländern auch die Rechtsstaa­tlichkeit zulassen. Die islamistis­chen Länder nutzen den Islam, um ihr eigenes Volk zu unterdrück­en und ihm die Religionsf­reiheit zu verweigern. SN: Die im Bundestags­wahlkampf viel diskutiert­e Frage ist: Gehört der Islam zu Deutschlan­d? Das ist eine immer wieder falsch gestellte Frage. Der Islam ist nicht nur eine Religion, wie die Europäer glauben. Der Islam ist auch eine politische Richtung. Und solange das so ist, kann er nicht als Religion akzeptiert werden.

Der Islam muss erst eine spirituell­e Religion werden. Dann lässt sich die Frage beantworte­n.

Necla Kelek, geb. 1957 in Istanbul, ist heute im Vorstand von TERRE DES FEMMES. Sie hat sich als Menschenre­chtlerin und Kritikerin des autoritäre­n Frauenbild­s im traditione­llen Islam einen Namen gemacht. In ihrem Buch „Die fremde Braut“schildert sie das Schicksal junger Türkinnen, die von ihren Eltern nach Deutschlan­d verheirate­t werden. Von 2005 bis 2009 war sie Mitglied der Islamkonfe­renz.

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BILD: SN/DPA/BORIS ROESSLER Eine Muslimin vor einer DITIB-Moschee in Hessen.
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