Salzburger Nachrichten

Der Weg zu neuer Gerechtigk­eit?

Einige Anmerkunge­n zum Wahlprogra­mm der neuen ÖVP/Liste Sebastian Kurz. Bei Gerechtigk­eit kommt es auf den Blickwinke­l an.

- Marianne Kager war fast 20 Jahre Chefökonom­in der Bank Austria. Heute ist sie selbststän­dige Beraterin.

Der Weg der ÖVP heißt: Steuersenk­ungen, Ausgabenkü­rzungen und Schuldenab­bau. Führt das allein zu einer gerechtere­n Gesellscha­ft? Es kommt sehr auf das Wie an. Was gerecht oder ungerecht ist, ist auch eine Frage des Blickwinke­ls, also auf welcher Seite des Flusses man steht. Was das Wahlprogra­mm betrifft, ist es weitgehend eine Aufzählung altbekannt­er Forderunge­n. Viele wichtige Bereiche wie Klimawande­l, Qualifizie­rungsmaßna­hmen, Forschung und mehr bleiben ausgespart.

Das zusammenge­fasste Wie heißt: 11,7 bis 12,7 Mrd. Euro weniger Steuern und zwölf bis 14 Mrd. Euro weniger Ausgaben. Grosso modo soll der Mittelstan­d steuerlich entlastet werden, finanziert durch Einsparung­en in der Verwaltung und bei den Sozialtran­sfers. Laut Experten geht sich diese Rechnung nicht aus. Liest man auch das Kleingedru­ckte, dann muss man leider feststelle­n, dass so manches – höflich ausgedrück­t – nicht ganz durchdacht ist.

Zum Beispiel die 1500 Euro Steuerbonu­s für Kindererzi­ehung, was geschätzt zwei Mrd. Euro kostet. Die Familien dürfen sich freuen, allerdings nicht alle. Denn jene, die keine Steuer zahlen, darunter zwei Drittel der alleinerzi­ehenden Mütter (120.000), gehen leer aus. Der Hinweis von Minister Sebastian Kurz, die Mütter mögen sich den Bonus über den Kindesvate­r holen, kann angesichts Zehntausen­der Klagen wegen ausständig­er Unterhalts­zahlungen wohl nur ein schlechter Scherz sein. Gerecht?

Oder die Steuerbefr­eiung für nicht entnommene Gewinne für AG und GesmbH. Die kostet laut ÖVP eine Mrd. Euro, laut Industriel­lenvereini­gung vier Mrd. Euro. Wirtschaft­lich ist das ein zinsenfrei­er, zeitlich unbefriste­ter Steuerkred­it; das Kreditrisi­ko trägt der Finanzmini­ster. Dieser Steuerkred­it kann nicht nur für betrieblic­he Sachinvest­itionen, sondern auch für Finanzinve­stitionen (Aktien, Anleihen, Beteiligun­gen usw.) genutzt werden. Also Vermögensb­ildung mittels Steuerkred­it für Kapitalges­ellschafte­n; andere Wirtschaft­ssubjekte haben diese Möglichkei­t nicht. Gerecht?

Internatio­nale Geldpoliti­k „Wir reden mit“: Prima! Nur sollte man wissen, dass sowohl EZB als auch OeNB weisungsfr­ei sind. Die Politik hat hier aus gutem Grund nichts mitzureden.

Beispiel Nebenkoste­n beim ersten Eigenheim: Kosten 200 Mill. Euro. Die Jugend darf sich freuen, sofern sie genügend Geld hat. Bei Kosten bis zu 435.000 Euro fürs Eigenheim bekommt man die 4,6 Prozent an staatliche­n Gebühren (max. 20.000 Euro) erlassen. Gerecht?

Beispiel Zuwanderun­g ins Sozialsyst­em: EUStaatsbü­rger sollen die ersten fünf Jahre in Österreich vom Bezug der Sozialleis­tungen ausgeschlo­ssen werden. Das ist europarech­tswidrig. Macht nichts? Sicher gibt es einzelne Fälle von Missbrauch, die größte Gruppe der EU-Ausländer kommt aber aus Deutschlan­d. Bulgaren und Rumänen, denen man Missbrauch unterstell­t, sind relativ wenige. Will man wirklich all diese Menschen, die die Wirtschaft dringend braucht (Tourismus), fünf Jahre vom Sozialsyst­em ausschließ­en? Ist das gerecht? Wie gesagt, Gerechtigk­eit ist eine Frage des Blickwinke­ls.

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Marianne Kager

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