Umfragen und heilige Hühner
Ein Wahlkampf hält für die Umkämpften zwei Annehmlichkeiten bereit. Ein Wettbewerb der Ideen, wie das Land fürderhin am besten regiert werden soll, zählt allerdings nicht dazu. Stattdessen liefert der Wahlkampf erstens neue Gesichter und zweitens neue Umfragen. Beides am laufenden Band.
Das mit den neuen Gesichtern ist durch die seriellen Quereinsteiger-Präsentationen der ersten Wahlkampfwochen für heuer erledigt. Bleiben also die Umfragen. Vorhersagen und Politik sind ja miteinander aufs Engste verbunden, und das nicht erst seit heute.
Schon in grauer Vorzeit mischten Wahrsager und Meinungsforscher in der Politik mit. Allerdings wurde damals zum Zwecke der Vorhersage nicht die Meinung der Bürger erhoben, sondern der Lauf der Gestirne, der Flug der Vögel, die Leber von Opfertieren oder auch der Appetit der heiligen Hühner. Dieser entschied darüber, ob eine römische Armee in die Schlacht ziehen durfte oder nicht. Fraßen die Hühner, durfte sie. Wenn nicht, dann nicht.
Nun gab es schon damals maßgebliche Kräfte, die den Ergebnissen der Meinungsforschung skeptisch gegenüberstanden. So etwa der römische Feldherr Claudius Pulcher im Ersten Punischen Krieg. Als er eines Tages den Karthagern unbedingt eine Schlacht liefern wollte, hatten die heiligen Hühner leider überhaupt keine Lust zu fressen. Als ihm der Meinungsforscher das berichtete, bekam Pulcher einen ganz schönen Tobsuchtsanfall. Mit den Worten „Wenn sie schon nicht fressen wollen, möchte ich sehen, ob sie saufen können!“ließ er die satten Hendln ins Meer werfen und gab den Befehl zum Angriff.
Aber es kam, wie es kommen musste. Prompt verlor er die Schlacht und wurde daraufhin wegen Missachtung der Vorhersagen (die damals eine religiöse Angelegenheit waren) verurteilt. Die Lehre daraus: Bitte den Umfragen unbedingt Glauben schenken!
Schon bei der Gründung Roms hatten die Vorhersagen eine eminente Rolle gespielt. Und zwar gerieten Romulus und Remus in Streit darüber, wer der Stadt den Namen geben dürfe. Da sich die Brüder nicht einigen konnten, ließen sie den Vogelflug entscheiden. Beide postierten sich auf einen der sieben Hügel der noch unbenannten Stadt und warteten auf ein göttliches Zeichen.
Als Erster freute sich Remus: Er sah sechs Geier! Dann frohlockte Romulus: zwölf Geier! Damit ging der Streit weiter. Die Anhänger von Remus meinten, das erste göttliche Zeichen entscheide. Für die Anhänger von Romulus war die größere Zahl der gesichteten Vögel maßgeblich. Das ist etwas, das die Demoskopie bis heute beschäftigt: der Konflikt zwischen der Schnelligkeit der Umfrage und der Zahl der Befragten.
Wie der Streit damals ausging, bedarf keiner Erwähnung. Sonst würde die Hauptstadt Italiens ja jetzt Rem heißen. Bis heute wird daher die Qualität einer Vorhersage nach der Zahl der zu ihrem Zwecke Befragten (dem sogenannten Semmpl) bemessen. Kein Meinungsforscher, der auf sich hält, würde seine Prophezeiung heute auf ein paar komische Vögel stützen. Wirklich nicht.
Dass Vorhersagen dennoch mitunter falsch sein können, ist schon im Alten Testament nachzulesen. Dort heißt es: „Wenn ein Prophet im Namen des Herrn spricht und sein Wort sich nicht erfüllt und nicht eintritt, dann ist es ein Wort, das nicht der Herr gesprochen hat. Der Prophet hat sich nur angemaßt, es zu sprechen. Du sollst dich dadurch nicht aus der Fassung bringen lassen.“
Das soll all jenen zum Trost dienen, die in den momentanen Wahlumfragen scheinbar hoffnungslos zurückliegen. Vielleicht handelt es sich bei deren Urhebern ja nur um anmaßende Propheten, die ihre Hühner im Meer ertränkt haben, statt sie zu befragen.