Glaubensbrüder setzen liberale Muslime unter Druck
Der Konflikt um den Islam in Europa geht auch quer durch die Muslime selbst. In Deutschland stehen prominente Vertreter eines liberalen Islam wegen ständiger Angriffe unter Personenschutz.
Frauen und Männer, die einen zeitgemäßen, europäischen Islam vertreten, werden von konservativen Muslimen vielfach unter Druck gesetzt. Diese Angriffe gehen nach Auskunft von Experten einerseits von der Türkei und Saudi-Arabien aus. Andererseits wenden sich auch muslimische Verbände aggressiv gegen liberale Auslegungen des Koran. In Deutschland stehen daher führende Vertreterinnen und Vertreter eines gewaltfreien Islam unter Personenschutz, darunter Seyran Ateş, die Begründerin der ersten liberalen Moschee in Berlin.
„Die Repressalien sind ein wesentlicher Grund dafür, dass sich liberale Gelehrte des Islam kaum an die Öffentlichkeit wagen“, sagt Ateş im SN-Gespräch. Das gelte sowohl in den arabischen Ländern wie in der Türkei, aber auch in Deutschland. „Hier üben islamische Verbände heftige Kritik an jeder Reform, nicht immer laut, aber leise sehr viel.“Seyran Ateş ist überzeugt, dass es einen „europäischen Islam“gebe. Es werde aber noch 20 Jahre dauern, bis sich dieser durchsetzen könne.
Die Verhandlungen der EU mit der Türkei müssten nach Ansicht der prominenten Muslimin längst abgebrochen werden. „Um die Türkei als gesamtes Land trauere ich, das schmerzt mich. Aber die Politik der AKP und Erdoğans ist demokratieund menschenrechtsfeindlich. Sie bringt die Türkei ins Abseits von Europa“, sagt Ateş.
Seyran Ateş hat in Berlin eine liberale Moschee gegründet und wird deshalb von streng konservativen Muslimen angefeindet. SN: Was verstehen Sie unter einem liberalen Islam? Ateş: Die Bezeichnung liberaler Islam ist nicht von uns als Label gedacht. Uns geht es darum, dass wir einen zeitgemäßen Islam leben, der nicht im 7. Jahrhundert verharrt, sondern den Koran historisch-kritisch betrachtet und ihn zeitgemäß praktiziert. Daraus wird im Sprachgebrauch die liberale Version, weil wir im Gegensatz zu den Konservativen sehr viel mehr auf die heutige Realität der Menschen eingehen.
Wir berufen uns dabei unter anderem auf die Ankaraer Schule oder auf frühere Gelehrte wie Ibn Rushd, die darauf geachtet haben, was Sinn und Zweck einer Koran-Sure ist. SN: Wenn man einen Text historisch-kritisch interpretiert, kommt sofort die Frage, nach welchen Kriterien Sie das tun? Wir stehen da in der Tradition der jüdischen Liberalen und der christlichen Liberalen. Am Ende geht es immer darum – das sage ich als Juristin –, wie bei einem Paragrafen darauf zu achten, was sich der Gesetzgeber dabei gedacht hat. Wir schauen daher auf die Lebenssituation des Propheten und seiner Gemeinde, auf die geopolitischen Verhältnisse damals, auf das Verhältnis zu den einzelnen Religionsgemeinschaften und der Gläubigen untereinander. Das alles spielt in den Koran hinein. Man findet dazu viele Arbeiten von Gelehrten, die uns seit der Eröffnung unserer Moschee geradezu überfluten. Wir werden diesen wissenschaftlichen Diskurs der muslimischen Gemeinschaft als Blog auf unserer Homepage führen. SN: Man hat den Eindruck, solche zeitgemäße Arbeiten über den Koran seien eine ganz kleine Minderheit. Das stimmt nicht. Allein in den vergangenen mehr als 100 Jahren gibt es im Islam einen fortschreitenden Prozess der Reformation. Aber die Menschen getrauen sich nicht, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.
Ein Beispiel: Eine Frau aus der Türkei schreibt uns, dass sie seit 26 Jahren an theologischen Grundlagen zur Erneuerung des Islam arbeite. Sie getraut sich ihre Erkenntnisse aber nicht als Buch zu veröffentlichen. Sie hat Angst, dass sie in der Gemeinschaft, in der sie lebt, ausgegrenzt oder sogar wegen Blasphemie bestraft werden könnte. SN: Sind religiöse oder politische Mächte das Hindernis? Es sind zunächst die einfachen Leute, die Nachbarn. Diese Frau wohnt in einem Mietshaus. Wenn ihr Name in Zeitungen bekannt würde, dann wüssten die Nachbarn, wofür sie steht, und sie würde belästigt werden. Sie könnte nicht mehr allein auf den Markt gehen etc.
Die nächste Ebene ist die Wissenschaft. Andere Theologen würden sie als Unwissende und Häretikerin diskriminieren und diffamieren. Dann droht die politische Verfolgung durch den Staat. Das Amt für Religionsangelegenheiten in der Türkei müsste nur eine Fatwah, eine Presseerklärung herausgeben, dass diese Frau falsche Lehren verbreite. Damit wäre sie deinstalliert.
Hier in Deutschland üben islamische Verbände heftige Kritik an jeder Reform, nicht immer laut, aber leise sehr viel. Deshalb getrauen sich so viele Liberale nicht an die Öffentlichkeit. SN: Sie stehen wegen solcher Angriffe unter Personenschutz. Anderseits spüren Sie viel Solidarität. Wann kann sich ein liberaler Islam etablieren? Ich habe acht Jahre an der Realisierung unserer Moschee gearbeitet. Ich sehe in den nächsten zehn und 20 Jahren größere Sprünge. Wir werden etwa zehn Jahre Kampf ausstehen müssen, um weitere Moscheen zu eröffnen. In den darauf folgenden zehn Jahren werden wir dann Reformen in Gang bringen.
In der Bildung haben wir den Diskussionsprozess schon angeregt. Es kommen täglich Gruppen bis zu 50 Leuten in unsere Moschee, demnächst sogar 90 Schüler. Kürzlich kam eine junge Frau aus Kanada (ursprünglich aus Somalia, Muslimin) und sagte: Eure Bewegung ist meine Bewegung, sagt mir, was ich tun kann. Millionen Menschen stehen hinter dieser Idee, sie schreiben uns über die sozialen Medien aus westlichen Ländern, aus der Türkei, aus arabischen Ländern.
Das ist meine Hoffnung auf einen friedlichen Islam. SN: Wir erläutern Sie die Gewalt-Suren im Koran? Wir lassen bestimmte Suren einfach so stehen, wie sie ihrer Zeit entsprochen haben. Der Koran wurde in einem Prozess von 23 Jahren offenbart, von einer mystischen und friedlichen Phase in Mekka ist es am Ende zu einer kriegerischen Phase in Medina gekommen. Wenn die damalige sehr kleine muslimische Gemeinde kämpfen musste, dann deshalb, weil sich Stämme und Religionsgemeinschaft in dieser Zeit bekriegt haben. Aber nur weil es einen Heiligen Krieg der Christen gab, ziehen doch Christen heute nicht mehr in den Kreuzzug!
Man muss hinschauen, warum diese Kriege damals passiert sind. Und wir müssen sie in ihrer Zeit belassen. Wir sind heute auch darüber hinweg, dass es in den Heiligen Schriften immer Sklaverei gegeben hat, weil das in jener Zeit so war. SN: Muss der Islam seine Reformation viel schneller schaffen als das Christentum? Ja, der Islam ist in dieser Not, er hat aber auch den Luxus, dass viel Arbeit vorgeleistet wurde. Wir profitieren von der Reformation im Judentum und im Christentum. Wir profitieren von der Aufklärung und von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wir leben in einer Gesellschaft, die diese Schritte gemacht hat. Wir können daher einen Quantensprung machen. Das haben wir mit unserer Moschee getan. SN: Gibt es einen europäischen Islam? Es gibt einen europäischen Islam, wie ihn Bassam Tibi beschrieben hat. Und es gibt daher auch die europäische Verantwortung. Der Islam hat sich ausgehend von der arabischen Halbinsel in jedem Land, in dem er angekommen ist, ganz unterschiedlich den jeweiligen Traditionen angepasst – von Marokko bis Indonesien, von den Balkanländern bis zum Sonderfall Türkei.
Es passt absolut zum Islam, der sehr pluralistisch und individualisiert ist, dass die Muslime in Europa sich im Kern zu den fünf Säulen des Islam bekennen, in der Tradition und Umsetzung und Lesart aber sehr europäisch sind. SN: Um die Türkei als gesamtes Land trauere ich. Das schmerzt mich. Aber die Verhandlungen der EU mit der Türkei hätten längst abgebrochen werden müssen. Die Politik der AKP und Erdogans ist demokratieund menschenrechtsfeindlich. Sie bringt die Türkei immer mehr ins Abseits von Europa.