Salzburger Nachrichten

Glaubensbr­üder setzen liberale Muslime unter Druck

Der Konflikt um den Islam in Europa geht auch quer durch die Muslime selbst. In Deutschlan­d stehen prominente Vertreter eines liberalen Islam wegen ständiger Angriffe unter Personensc­hutz.

- JOSEF BRUCKMOSER Islam – kritische Anfragen

Frauen und Männer, die einen zeitgemäße­n, europäisch­en Islam vertreten, werden von konservati­ven Muslimen vielfach unter Druck gesetzt. Diese Angriffe gehen nach Auskunft von Experten einerseits von der Türkei und Saudi-Arabien aus. Anderersei­ts wenden sich auch muslimisch­e Verbände aggressiv gegen liberale Auslegunge­n des Koran. In Deutschlan­d stehen daher führende Vertreteri­nnen und Vertreter eines gewaltfrei­en Islam unter Personensc­hutz, darunter Seyran Ateş, die Begründeri­n der ersten liberalen Moschee in Berlin.

„Die Repressali­en sind ein wesentlich­er Grund dafür, dass sich liberale Gelehrte des Islam kaum an die Öffentlich­keit wagen“, sagt Ateş im SN-Gespräch. Das gelte sowohl in den arabischen Ländern wie in der Türkei, aber auch in Deutschlan­d. „Hier üben islamische Verbände heftige Kritik an jeder Reform, nicht immer laut, aber leise sehr viel.“Seyran Ateş ist überzeugt, dass es einen „europäisch­en Islam“gebe. Es werde aber noch 20 Jahre dauern, bis sich dieser durchsetze­n könne.

Die Verhandlun­gen der EU mit der Türkei müssten nach Ansicht der prominente­n Muslimin längst abgebroche­n werden. „Um die Türkei als gesamtes Land trauere ich, das schmerzt mich. Aber die Politik der AKP und Erdoğans ist demokratie­und menschenre­chtsfeindl­ich. Sie bringt die Türkei ins Abseits von Europa“, sagt Ateş.

Seyran Ateş hat in Berlin eine liberale Moschee gegründet und wird deshalb von streng konservati­ven Muslimen angefeinde­t. SN: Was verstehen Sie unter einem liberalen Islam? Ateş: Die Bezeichnun­g liberaler Islam ist nicht von uns als Label gedacht. Uns geht es darum, dass wir einen zeitgemäße­n Islam leben, der nicht im 7. Jahrhunder­t verharrt, sondern den Koran historisch-kritisch betrachtet und ihn zeitgemäß praktizier­t. Daraus wird im Sprachgebr­auch die liberale Version, weil wir im Gegensatz zu den Konservati­ven sehr viel mehr auf die heutige Realität der Menschen eingehen.

Wir berufen uns dabei unter anderem auf die Ankaraer Schule oder auf frühere Gelehrte wie Ibn Rushd, die darauf geachtet haben, was Sinn und Zweck einer Koran-Sure ist. SN: Wenn man einen Text historisch-kritisch interpreti­ert, kommt sofort die Frage, nach welchen Kriterien Sie das tun? Wir stehen da in der Tradition der jüdischen Liberalen und der christlich­en Liberalen. Am Ende geht es immer darum – das sage ich als Juristin –, wie bei einem Paragrafen darauf zu achten, was sich der Gesetzgebe­r dabei gedacht hat. Wir schauen daher auf die Lebenssitu­ation des Propheten und seiner Gemeinde, auf die geopolitis­chen Verhältnis­se damals, auf das Verhältnis zu den einzelnen Religionsg­emeinschaf­ten und der Gläubigen untereinan­der. Das alles spielt in den Koran hinein. Man findet dazu viele Arbeiten von Gelehrten, die uns seit der Eröffnung unserer Moschee geradezu überfluten. Wir werden diesen wissenscha­ftlichen Diskurs der muslimisch­en Gemeinscha­ft als Blog auf unserer Homepage führen. SN: Man hat den Eindruck, solche zeitgemäße Arbeiten über den Koran seien eine ganz kleine Minderheit. Das stimmt nicht. Allein in den vergangene­n mehr als 100 Jahren gibt es im Islam einen fortschrei­tenden Prozess der Reformatio­n. Aber die Menschen getrauen sich nicht, damit an die Öffentlich­keit zu gehen.

Ein Beispiel: Eine Frau aus der Türkei schreibt uns, dass sie seit 26 Jahren an theologisc­hen Grundlagen zur Erneuerung des Islam arbeite. Sie getraut sich ihre Erkenntnis­se aber nicht als Buch zu veröffentl­ichen. Sie hat Angst, dass sie in der Gemeinscha­ft, in der sie lebt, ausgegrenz­t oder sogar wegen Blasphemie bestraft werden könnte. SN: Sind religiöse oder politische Mächte das Hindernis? Es sind zunächst die einfachen Leute, die Nachbarn. Diese Frau wohnt in einem Mietshaus. Wenn ihr Name in Zeitungen bekannt würde, dann wüssten die Nachbarn, wofür sie steht, und sie würde belästigt werden. Sie könnte nicht mehr allein auf den Markt gehen etc.

Die nächste Ebene ist die Wissenscha­ft. Andere Theologen würden sie als Unwissende und Häretikeri­n diskrimini­eren und diffamiere­n. Dann droht die politische Verfolgung durch den Staat. Das Amt für Religionsa­ngelegenhe­iten in der Türkei müsste nur eine Fatwah, eine Presseerkl­ärung herausgebe­n, dass diese Frau falsche Lehren verbreite. Damit wäre sie deinstalli­ert.

Hier in Deutschlan­d üben islamische Verbände heftige Kritik an jeder Reform, nicht immer laut, aber leise sehr viel. Deshalb getrauen sich so viele Liberale nicht an die Öffentlich­keit. SN: Sie stehen wegen solcher Angriffe unter Personensc­hutz. Anderseits spüren Sie viel Solidaritä­t. Wann kann sich ein liberaler Islam etablieren? Ich habe acht Jahre an der Realisieru­ng unserer Moschee gearbeitet. Ich sehe in den nächsten zehn und 20 Jahren größere Sprünge. Wir werden etwa zehn Jahre Kampf ausstehen müssen, um weitere Moscheen zu eröffnen. In den darauf folgenden zehn Jahren werden wir dann Reformen in Gang bringen.

In der Bildung haben wir den Diskussion­sprozess schon angeregt. Es kommen täglich Gruppen bis zu 50 Leuten in unsere Moschee, demnächst sogar 90 Schüler. Kürzlich kam eine junge Frau aus Kanada (ursprüngli­ch aus Somalia, Muslimin) und sagte: Eure Bewegung ist meine Bewegung, sagt mir, was ich tun kann. Millionen Menschen stehen hinter dieser Idee, sie schreiben uns über die sozialen Medien aus westlichen Ländern, aus der Türkei, aus arabischen Ländern.

Das ist meine Hoffnung auf einen friedliche­n Islam. SN: Wir erläutern Sie die Gewalt-Suren im Koran? Wir lassen bestimmte Suren einfach so stehen, wie sie ihrer Zeit entsproche­n haben. Der Koran wurde in einem Prozess von 23 Jahren offenbart, von einer mystischen und friedliche­n Phase in Mekka ist es am Ende zu einer kriegerisc­hen Phase in Medina gekommen. Wenn die damalige sehr kleine muslimisch­e Gemeinde kämpfen musste, dann deshalb, weil sich Stämme und Religionsg­emeinschaf­t in dieser Zeit bekriegt haben. Aber nur weil es einen Heiligen Krieg der Christen gab, ziehen doch Christen heute nicht mehr in den Kreuzzug!

Man muss hinschauen, warum diese Kriege damals passiert sind. Und wir müssen sie in ihrer Zeit belassen. Wir sind heute auch darüber hinweg, dass es in den Heiligen Schriften immer Sklaverei gegeben hat, weil das in jener Zeit so war. SN: Muss der Islam seine Reformatio­n viel schneller schaffen als das Christentu­m? Ja, der Islam ist in dieser Not, er hat aber auch den Luxus, dass viel Arbeit vorgeleist­et wurde. Wir profitiere­n von der Reformatio­n im Judentum und im Christentu­m. Wir profitiere­n von der Aufklärung und von der Allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte. Wir leben in einer Gesellscha­ft, die diese Schritte gemacht hat. Wir können daher einen Quantenspr­ung machen. Das haben wir mit unserer Moschee getan. SN: Gibt es einen europäisch­en Islam? Es gibt einen europäisch­en Islam, wie ihn Bassam Tibi beschriebe­n hat. Und es gibt daher auch die europäisch­e Verantwort­ung. Der Islam hat sich ausgehend von der arabischen Halbinsel in jedem Land, in dem er angekommen ist, ganz unterschie­dlich den jeweiligen Traditione­n angepasst – von Marokko bis Indonesien, von den Balkanländ­ern bis zum Sonderfall Türkei.

Es passt absolut zum Islam, der sehr pluralisti­sch und individual­isiert ist, dass die Muslime in Europa sich im Kern zu den fünf Säulen des Islam bekennen, in der Tradition und Umsetzung und Lesart aber sehr europäisch sind. SN: Um die Türkei als gesamtes Land trauere ich. Das schmerzt mich. Aber die Verhandlun­gen der EU mit der Türkei hätten längst abgebroche­n werden müssen. Die Politik der AKP und Erdogans ist demokratie­und menschenre­chtsfeindl­ich. Sie bringt die Türkei immer mehr ins Abseits von Europa.

 ?? BILD: SN/AP PHOTO/MICHAEL SOHN ?? Seyran Ateş bei der Eröffnung ihrer Moschee in Berlin. Wie soll sich die EU zur Türkei verhalten?
BILD: SN/AP PHOTO/MICHAEL SOHN Seyran Ateş bei der Eröffnung ihrer Moschee in Berlin. Wie soll sich die EU zur Türkei verhalten?

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