Die Parteien statt der Wähler mahnen
Vor dem Hintergrund des laufenden Wahlkampfs wies unser Herr Bundespräsident kürzlich zutreffend darauf hin, dass Wahltage in einer Demokratie für jede/-n höchste Feiertage sein müssten. Wegen deren Bedeutung sei jede/-r Wähler/-in aufgerufen, sich vor dem Urnengang Zeit für das Studium der Programme der einzelnen Parteien zu nehmen. Der Herr Bundespräsident ist damit eins mit JeanJacques Rousseau, der meinte, dass man angesichts der Bedeutung einer Wahl erwarten dürfte, dass die Wähler erst nach sorgfältiger Prüfung der Wahlprogramme und Befragung ihres Gewissens den Stimmzettel in den Schlitz der Urne gleiten lassen. Erst dann, so schwärmte er, gelange die Volonté générale, der allgemeine Wille, der den Staat gedeihen lässt, zur Herrschaft.
Dies ist aber pure Illusion. Denn der Mensch hat leider Schwächen. So heißt es doch im „Faust“: „Es irrt der Mensch, solang er strebt“, will heißen, dass es mit seinem Urteilsvermögen nicht allzu weit her ist. Hinzu kommt der ihm wesenseigentümliche Egoismus, der das harmonische Zusammenleben erschwert. Auch wird die Mehrzahl der Wähler keineswegs ihre persönlichen Interessen auf dem Urnenaltar des Vaterlandes opfern und Untugenden vor der Tür des Wahllokals parken.
Das wussten die Väter unserer Verfassung und beugten dem mit der repräsentativen Demokratie, also mit der Zwischenschaltung von Parteien vor. Ihnen wurde die verfassungsmäßige Aufgabe übertragen, den allgemeinen Willen des Volkes mit Mehrheiten zu vertreten.
Der Aufruf unseres Herrn Bundespräsidenten an das Wahlvolk mag zwar staatsmännisch gemeint sein, doch wäre es wohl zielführender, sich an die Parteien einschließlich der Grünen zu wenden und ihnen gerade vor dieser Nationalratswahl ins Gedächtnis zu rufen, dass • respektvoller Umgang zwischen den Parteien, • Toleranz und • Meinungsfreiheit tragende Säulen einer Demokratie sind, welche den Wählern viel deutlicher den Weg zeigen als die diversen Wahlprogramme. Dr. Wolf Schuler RA em.