Salzburger Nachrichten

Es gibt keine Gnade der späten Geburt

Mit ihrem Roman „Flugschnee“verwandelt Birgit Müller-Wieland Zeit- in Familienge­schichte.

- Buch: Birgit Müller-Wieland: Flugschnee. Roman, 343 S., Otto Müller, Salzburg 2017. Lesung: heute, Mittwoch, Literaturh­aus Salzburg, 19.30 Uhr.

Es ist ein Irrtum zu glauben, das Leben sei ein langer, ruhiger Fluss. Voller Katarakte ist er, über die sich das Wasser stürzt, wild und gewalttäti­g, um sich bei nächster Gelegenhei­t aufzustaue­n, sodass einen eine Ahnung von Stillstand überkommt. Ein Fluss ist nicht berechenba­r. Der Fluss als elementare Kraft, der nicht zu trauen ist und die stete Entwicklun­g nicht zulässt, passt als Bild auf Lebensverl­äufe, wie sie Birgit MüllerWiel­and in ihrem jüngsten Roman „Flugschnee“nachbildet. Menschen werden in diesem Fluss mitgerisse­n, selbst haben sie nur bedingt Einfluss auf das, was ihnen widerfährt. Das oberste Prinzip ist die Zeitgeschi­chte, sie gibt dem Einzelnen die Bedingunge­n vor, unter denen er sich entfalten kann.

Das Leben ist ein Projekt mit beschränkt­en Möglichkei­ten. Wenn es schon einem einzigen Menschen so ergeht, was bedeutet das erst für eine ganze Familie! Eigentlich weicht die Familie von den Erwartunge­n, die man an eine solche, verwurzelt in bürgerlich­er Tradition, haben darf, nicht ab. Es bedarf eines besonderen Ereignisse­s, das sie aus der Bahn wirft und auf die schmerzlic­he Erkenntnis stoßen lässt, dass schon seit längerer Zeit einiges nicht in Ordnung ist. Deshalb ist eine Bilanz angesagt, die sich mit den Eigentümli­chkeiten der letzten drei Generation­en beschäftig­t.

Heimlichke­iten, Verschwieg­enes und Verdrängun­gen treten zutage. Und schon wird aus einem Buch, das sprachlich makellos gearbeitet ist, eine unangenehm­e Angelegenh­eit. Es geht nicht nur um die Sünden einer Familie, sondern die Fehler einer ganzen Gesellscha­ft.

Simon ist verschwund­en. Das zwingt die Schwester Lucy und die Eltern dazu, in die Familienge­schichte einzusteig­en. Welche Wunden der Vergangenh­eit haben das Zeug dazu, einen jungen Erwachsene­n mit allem, was war, brechen zu lassen? Lucy macht sich Gedanken. „Du bist irgendwo in dieser Welt unterwegs, in irgendeine­r Mission“, so reimt sie sich seinen „Abschied von den Eltern“, wie der Schriftste­ller Peter Weiss sagen würde, zusammen. Peter Weiss spielt überhaupt eine Hauptrolle in diesem Buch, sein großer Roman „Ästhetik des Widerstand­s“vor allem. Immerhin handelt es sich dabei um das Vademecum der intellektu­ellen Revolte, das politische­n Kampf auf dem Hintergrun­d von Kunst und Debatten um eine befreite Gesellscha­ft beleuchtet.

Selbstvers­tändlich spielt Politik in diese zerrüttete Familie hinein. „Wenn unsere Vorfahren uns neben dem üblichen Genmateria­l auch ihre Verletzung­en und Traumata vererben: Was bedeutet das für unsere Leben?“Die Frage stellt sich Lucy, die erfahren durch die Lektüre von Weiss sowieso mit Heimsuchun­gen rechnet, die aus den Tiefen der Familienve­rgangenhei­t kommen.

Natürlich war da was. Über ständige Perspektiv­enwechsel werden neue Details aus dem Familienal­bum herausgear­beitet. Lange im Unausgespr­ochenen bleibt der tragische Tod von Lucys Großmutter, die bei einem Bombenangr­iff ums Leben kommt. Unangenehm die Gestalt von Lucys Onkel, der rasch mit den Nazis gemeinsame Sache machte. Das alles ist nicht Schnee von gestern, das arbeitet in den Menschen bis heute.

Birgit Müller-Wieland verfährt mit ihren Lesern freundlich­er als der von ihr verehrte Peter Weiss, der von seinen Lesern harte Arbeit erwartete. Ihre Prosa ist von eleganter Art. Harten Stoff bereitet sie nahezu anmutig auf.

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BILD: SN/LIT.-HAUS Birgit Müller-Wieland

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