Es gibt keine Gnade der späten Geburt
Mit ihrem Roman „Flugschnee“verwandelt Birgit Müller-Wieland Zeit- in Familiengeschichte.
Es ist ein Irrtum zu glauben, das Leben sei ein langer, ruhiger Fluss. Voller Katarakte ist er, über die sich das Wasser stürzt, wild und gewalttätig, um sich bei nächster Gelegenheit aufzustauen, sodass einen eine Ahnung von Stillstand überkommt. Ein Fluss ist nicht berechenbar. Der Fluss als elementare Kraft, der nicht zu trauen ist und die stete Entwicklung nicht zulässt, passt als Bild auf Lebensverläufe, wie sie Birgit MüllerWieland in ihrem jüngsten Roman „Flugschnee“nachbildet. Menschen werden in diesem Fluss mitgerissen, selbst haben sie nur bedingt Einfluss auf das, was ihnen widerfährt. Das oberste Prinzip ist die Zeitgeschichte, sie gibt dem Einzelnen die Bedingungen vor, unter denen er sich entfalten kann.
Das Leben ist ein Projekt mit beschränkten Möglichkeiten. Wenn es schon einem einzigen Menschen so ergeht, was bedeutet das erst für eine ganze Familie! Eigentlich weicht die Familie von den Erwartungen, die man an eine solche, verwurzelt in bürgerlicher Tradition, haben darf, nicht ab. Es bedarf eines besonderen Ereignisses, das sie aus der Bahn wirft und auf die schmerzliche Erkenntnis stoßen lässt, dass schon seit längerer Zeit einiges nicht in Ordnung ist. Deshalb ist eine Bilanz angesagt, die sich mit den Eigentümlichkeiten der letzten drei Generationen beschäftigt.
Heimlichkeiten, Verschwiegenes und Verdrängungen treten zutage. Und schon wird aus einem Buch, das sprachlich makellos gearbeitet ist, eine unangenehme Angelegenheit. Es geht nicht nur um die Sünden einer Familie, sondern die Fehler einer ganzen Gesellschaft.
Simon ist verschwunden. Das zwingt die Schwester Lucy und die Eltern dazu, in die Familiengeschichte einzusteigen. Welche Wunden der Vergangenheit haben das Zeug dazu, einen jungen Erwachsenen mit allem, was war, brechen zu lassen? Lucy macht sich Gedanken. „Du bist irgendwo in dieser Welt unterwegs, in irgendeiner Mission“, so reimt sie sich seinen „Abschied von den Eltern“, wie der Schriftsteller Peter Weiss sagen würde, zusammen. Peter Weiss spielt überhaupt eine Hauptrolle in diesem Buch, sein großer Roman „Ästhetik des Widerstands“vor allem. Immerhin handelt es sich dabei um das Vademecum der intellektuellen Revolte, das politischen Kampf auf dem Hintergrund von Kunst und Debatten um eine befreite Gesellschaft beleuchtet.
Selbstverständlich spielt Politik in diese zerrüttete Familie hinein. „Wenn unsere Vorfahren uns neben dem üblichen Genmaterial auch ihre Verletzungen und Traumata vererben: Was bedeutet das für unsere Leben?“Die Frage stellt sich Lucy, die erfahren durch die Lektüre von Weiss sowieso mit Heimsuchungen rechnet, die aus den Tiefen der Familienvergangenheit kommen.
Natürlich war da was. Über ständige Perspektivenwechsel werden neue Details aus dem Familienalbum herausgearbeitet. Lange im Unausgesprochenen bleibt der tragische Tod von Lucys Großmutter, die bei einem Bombenangriff ums Leben kommt. Unangenehm die Gestalt von Lucys Onkel, der rasch mit den Nazis gemeinsame Sache machte. Das alles ist nicht Schnee von gestern, das arbeitet in den Menschen bis heute.
Birgit Müller-Wieland verfährt mit ihren Lesern freundlicher als der von ihr verehrte Peter Weiss, der von seinen Lesern harte Arbeit erwartete. Ihre Prosa ist von eleganter Art. Harten Stoff bereitet sie nahezu anmutig auf.