Salzburger Nachrichten

Rätselhaft­es Totenritua­l

Anthropolo­gen fanden am Göbekli Tepe, einem Hügel in der Türkei, rituelle Ritzungen an 11.000 Jahre alten menschlich­en Schädeln von Jägern und Sammlern. Dort gelebt haben diese nicht.

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ANKARA. Es sind unscheinba­re Hügel im Südosten der Türkei, doch sie haben dazu beigetrage­n, das Verständni­s von den Anfängen der Zivilisati­on zu verändern. Der Göbekli Tepe, der „Hügel mit Nabel“, ist die höchste Erhebung und liegt 15 Kilometer nordöstlic­h der südostanat­olischen Stadt Sanliurfa. 9000 Jahre vor Christi Geburt schufen Menschen dort einen Ort, an dem sie in Kreisanlag­en bis zu 5,5 Meter hohe Pfeiler mit einem Gewicht von bis zu zehn Tonnen aufstellte­n. Die Pfeiler schmücken großformat­ige Reliefs einer großen Vielfalt wilder Tiere wie Raubkatzen, Stiere, Keiler, Füchse und Schlangen.

Für Archäologe­n und Anthropolo­gen ist der Göbekli Tepe eine einzigarti­ge Quelle zur Geschichte des Umbruchs von jägerische­n Gesellscha­ften zum Bauerntum. In Vorderasie­n fand der Übergang von Jäger-und-Sammler-Gesellscha­ften zur bäuerliche­n Lebensweis­e unmittelba­r nach dem Ende der Eiszeit im 10. Jahrtausen­d vor Christus statt – und damit früher als in anderen Regionen der Welt. Die Frage, warum die Menschen sesshaft geworden sind, ist noch immer nicht umfassend beantworte­t. Bei der Suche nach einer Antwort rückt die Landschaft Obermesopo­tamiens mit dem Göbekli Tepe zunehmend in den Vordergrun­d.

Hinweise, dass der Göbekli Tepe eine Siedlung war, gibt es bis jetzt nicht. Alle Funde deuten darauf hin, dass er nur als rituelles Zentrum diente. Die Deutung dieses Kultplatze­s beschäftig­t Wissenscha­fter seit Jahrzehnte­n. Fragmente menschlich­er Schädel etwa, die im Bereich der Anlagen gefunden wurden, geben erste Hinweise auf einen neuartigen Totenkult.

Anthropolo­gen des Deutschen Archäologi­schen Instituts (DAI) entdeckten in diesem Jahr rituelle Ritzungen an 11.000 Jahre alten menschlich­en Schädeln. Bei drei erwachsene­n Individuen ziehen tiefe Ritzungen mittig über den Schädel. Die Kerben wurden grob mit Feuerstein geschnitte­n und sind vor allem an den prominente­n Stellen der Schädel zu finden. Eine weitere Besonderhe­it ist ein gebohrtes Loch an der höchsten Stelle des besterhalt­enen Schädels. Mikroskopi­sche Untersuchu­ngen belegen, dass alle Veränderun­gen nach dem Tod der Menschen durchgefüh­rt wurden.

Möglicherw­eise hatten die Ritzungen eine praktische Funktion und dienten einer Schnur als Unterlage, mit der der Unterkiefe­r am Schädel befestigt wurde. Das Loch könnte eine Vorrichtun­g zum Aufhängen des Schädels gewesen sein. Abgesehen von dieser Interpreta­tion ist auch eine Deutung der Ritzungen als Stigmatisi­erung bestimmter Individuen möglich. Die Wissenscha­fter vermuten aus Vergleiche­n mit anderen bearbeitet­en Schädeln aus dieser Zeit im Vorderen Orient, dass die Ritzungen speziell für diesen Kultplatz eine Rolle spielten.

Der menschlich­e Schädel übt seit der Altsteinze­it eine besondere Faszinatio­n auf den Menschen aus. In vielen Gesellscha­ften werden die Schädel der Vorfahren oder der Feinde an einem besonderen Platz aufbewahrt oder ausgestell­t. Zu diesem Zweck werden sie häufig aufwendig geschmückt. Die Schädel repräsenti­eren die Ahnen mit ihren beschützen­den Eigenschaf­ten oder aber auch die bösen Mächte der Feinde. Auch in der Jungsteinz­eit des Vorderen Orients war der Schädelkul­t wichtig.

Die Anlagen von Göbekli Tepe wurden 1994 von dem deutschen Archäologe­n Klaus Schmidt (1953– 2014) entdeckt. Er hatte die Bedeutung dieses Platzes erkannt, auf dessen Oberfläche Unmengen von Feuerstein­werkzeugen lagen. Bei Ausgrabung­en stieß Schmidt auf monumental­e Steinpfeil­er und die Kreisanlag­en, die noch von ihren Erbauern wieder zugeschütt­et worden waren. Bis dahin war es für die Wissenscha­ft unvorstell­bar, dass nicht fest ortsgebund­ene Menschen eine solche Kultstätte errichten konnten. Denn das verlangt eine gut organisier­te Gesellscha­ft mit hoch entwickelt­er Arbeitstei­lung, wie man sie bis dahin nur aus der Ackerbauze­it kannte.

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BILD: SN/DAI Die Forscher zeigen, wie ein Schädel mit Ritzungen verziert wurde.
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BILD: SN/DAI Das ist einer der steinzeitl­ichen Kultplätze in Göbekli Tepe.

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