Geschlechterbild ist überholt
Zu „Choosing your own Gender …“(SN, 2. 9.). Frau Edwards’ Beitrag zeigt, wie Ungewohntes und Unbekanntes bei vielen Menschen Unbehagen auslöst. Talkshows, Dokumentationen und Zeitungsbeiträge verstärken dieses Unbehagen gegenüber dem Andersartigen, wenn dabei mehr Sensation und Stereotype als Fakten bedient werden. Es ist verständlich, dass es für viele schwierig ist, sich in transidente Menschen hineinzuversetzen. Faktisch unbestritten ist, dass diese Gruppe sich ihre Situation nicht als Lifestyle wählt. Wer den oft bitteren Weg dieser Menschen im persönlichen Kontakt nur ansatzweise mitbekommt, erkennt das. Die Behauptung, dass man seine Identität wählt wie ein Paar Schuhe, ist mehr getragen von bestimmter Moralvorstellung als von Ethik und Vernunft. Die von Frau Edwards aufgeworfenen Fragen spielen den Vertretern eines überholten Geschlechterbilds in die Hand, die die Koedukation von Mädchen und Burschen infrage stellten, die Eignung von Frauen zum Polizeidienst oder die Tauglichkeit von Männern als Kindergärtner anzweifelten. In weiterer Folge könnte man so auch die Unterbringung von Lesben im Spital auf Frauenstationen hinterfragen oder Schwule besser nicht im Fußballteam spielen lassen, weil von allen solchen Leuten Schwierigkeiten, Ungemach und Missbrauch drohen. Auch Fr. Edwards’ Zeilen wecken – sicher unbeabsichtigt – Assoziationen mit Leid („Krankenhäuser“), Gewalt („Frauenhäuser“), Missbrauch („auflauernde Männer“) und Verbrechen („Gefängnis“), die drohten, wenn alte Geschlechterrollen aufgegeben werden.
Wir sollten die Zeit überwunden haben, in der wir Gewohnheiten und Tradition über das Wesentliche stellten: Die Gesellschaft, der Staat, wir alle haben die Aufgabe, jedem Individuum den Gestaltungsspielraum zu gewähren, wie es seiner Würde, seinen Bedürfnissen und seinem Selbstverständnis entspricht. Ja, das bedeutet oft ein Umdenken, mitunter auch einen Aufwand. Doch gerade wenn es nur um Kleinigkeiten geht, wie wer welche Toiletten benutzt oder dass man für die Geschlechtercodes im Reisepass drei statt nur zwei Buchstaben braucht, sollte es uns dies auch wert sein. Solange wir das nicht tun, beschneiden wir letztlich Menschen in ihrer Freiheit, verwehren uns selbst den Anstand und gefährden den sozialen Frieden. DI Urs H. Grunicke