Kurz – jenseits von Zogelsdorf
Sebastian Kurz ist Hausherr in einem Schlössl in Meidling, wohnt aber ganz bescheiden.
WIEN. Das Vorurteil, den „Typus des mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsenen Hietzingers“zu verkörpern, wird ÖVP-Chef Sebastian Kurz nicht mehr so leicht los. Auch wenn sich der forsche Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier, der einst diesen Vorwurf erhoben hatte, bezirksgeografisch massiv irrte. Kurz begegnete dem Vorurteil – an dessen Entstehung er mit ein paar sehr oberflächlichen JVP-Auftritten nicht gänzlich unschuldig war – gern mit drei knappen Stehsätzen: „Ich bin ein Meidlinger, kein Hiet- zinger. Ich bin im ,Zwölften‘ aufgewachsen und in öffentliche Schulen gegangen. Im Gymnasium hatte fast die Hälfte der Leute in meiner Klasse Migrationshintergrund.“Dass Kurz zudem viel Zeit im ländlichen Zogelsdorf auf Omas Hof verbracht hat, weiß die Welt erst seit einem eben lancierten Wahlkampfvideo.
Der „Zwölfte“: Das ist das immer noch recht graue Meidling. Das immer noch recht noble Hietzing hingegen ist der „Dreizehnte“.
Schloss Schönbrunn und der Schlosspark trennen Hietzing von Meidling – das näselnde Hietzingerisch und das „Meidlinger L“auch. Hietzing, der in weiten Teilen elitäre Bezirk im Westen des Schönbrunner Schlossparks, macht auch heute noch mit Hunderten mehr oder weniger schönbrunnergelben Villen auf „Wir sind Kaiser“.
Der Arbeiterbezirk Meidling im Osten von Schönbrunn hingegen müht sich – zumindest im Grätzl, in dem Sebastian Kurz aufgewachsen ist –, ein wenig am Glanz Schönbrunns zu partizipieren. „Café Schönbrunn“heißen hier im „Zwölften“in der Gegend von Schönbrunner Straße und Schönbrunner Schloßstraße die Kaffeehäuser, „Pension Schönbrunn“die Pensionen, „Forum Schönbrunn“die Bürogebäude und „Motor Village Schönbrunn“die Autohäuser.
Mittendrin wohnt Sebastian Kurz. Aufgewachsen in einer riesigen grauen Eigentumswohnanlage mit 14 Stiegen – und auch nach dem kometenhaften Aufstieg im wenig schicken Grätzl geblieben. Dass die Gegend deshalb auf „Wir sind Kanzler“macht, ist beim Lokalaugenschein nicht festzustellen.
„Er wohnt als Außenminister immer noch da – so gesehen ist er ziemlich normal geblieben“, sagt ein Gast im nahen Café Raimann. „Man hat g’merkt, dass er daheim ist, wenn unten die Polizei g’stand’n ist – meistens in Zivil. Da in Meidling wohnen viele Prominente. Der Molterer hat a da g’wohnt.“Es sei ein angenehmes Eck zum Wohnen, „eh viel Grün, man ist gleich drüben in Schönbrunn und mit der U-Bahn gleich in der Stadt, an den Verkehr g’wöhnt man sich.“Und der Wirt sagt, Kurz sei nur zwei, drei Mal für ein Interview im Café gewesen. „Und wenn seine Eltern Gäste bei mir wären – I wissert des gar net.“
Eine Geschäftsinhaberin erklärt kryptisch, dass Kurz seit einigen Monaten nicht mehr in einer Wohnung auf derselben Stiege, auf der auch seine Eltern wohnten, lebe, sondern weggezogen sei. Nicht weit weg. Die Adresse sagt sie nicht – es sei aber gleich ums Eck in ganz unmittelbarer Nähe. „Mit Meidling hat er eh nicht viel zu tun, außer dass er da wohnt“, grummelt ihr Mann.
„Ich hab ihn noch nie gesehen“, erzählt eine Schülerin, die im Haus von Kurz’ Eltern wohnt. „Einmal war ganz viel Polizei da. Meine Mutter hat gesagt, dass sie wegen dem Kurz da sind“, erinnert sie sich an einen Polizeieinsatz wegen zweier vor dem Haus abgestellter verdächtiger Koffer. Sicherheit ist ein Thema. Seit das Klingelschild im jüngsten Kurz-Werbevideo, in dem der Kanzlerkandidat durch die Gasse vorm Elternhaus schreitet, zu sehen ist, sind die Namen der Familie Kurz auf den zwei Klingelschildern geschwärzt. „I’ hab die Fenster auf die Gass’n, man kann net sagen, dass es laut ist, zumindest ab zehn, elf ist es nimmer laut“, erzählt ein 60-jähriger Meidlinger, der direkt gegenüber von Kurz’ Elternhaus wohnt. „Mit den Parkplätzen ist es schwierig. Wann man nach 20 Uhr heimkommt, geht man oft zwei-, dreihundert Meter. Des Problem hat er net, wann er mit’m Chauffeur heimkommt.“
Kurz ist geblieben, wo er aufgewachsen ist, in den gesichtslosen Gassen Meidlings. Ob dies auch Teil einer geschickten Inszenierung ist, um volksnah rüberzukommen, so wie die Geschichten über die vorübergehende Arbeitslosigkeit seines Vaters oder die schlichten Eiernockerl als Lieblingsspeise, bleibt gerade im Wahlkampf Ansichtssache.
Dass Kurz in jungen Jahren gewissermaßen auch Hausherr einer schlossähnlichen Villa mit riesigem Park hier im Meidlinger Grätzl ist, würde ins eingangs erwähnte „Goldener-Löffel“-Vorurteil passen. Aber nur scheinbar. Nur wenige Hundert Meter von Kurz’ Wohnung liegt das Springer-Schlössl, Sitz der Politischen Akademie der ÖVP. Kurz ist Vorsitzender der Akademie und damit auch Hausherr. Im Springer-Schlössl trat im Mai auch der ÖVP-Vorstand zusammen, um Kurz zum Parteiobmann zu küren. Kurz kann in fünf Minuten von daheim hingehen. In der „Polak“geht er offenbar schon sein halbes Leben aus und ein. Neos-Chef Matthias Strolz, der im früheren Leben an der „Polak“Rhetorik lehrte, sagt: „Ich war sein Rhetorik-Trainer, als er 15 war und ich hab ihm gesagt: ,Hey, du bist ein echtes Talent.‘“
Das dürften auch einige der Lehrer im Gymnasium in der Erlgasse so gesehen haben – etwa „Mag. Fichtinger“, der im jüngsten KurzWahlkampfvideo vom ehemaligen Schüler schwärmt. „Ich find Kurz cool, weil er die gleiche Meinung hat wie ich“, sagt auch der 13-jährige Elias vor der Schule in der Erlgasse. Welche? „Dass die Flüchtlinge sich integrieren müssen und nicht wir uns anpassen müssen.“Seine Klasse ist wie einst die von Sebastian Kurz bunt gemischt. „Wir tolerieren uns gegenseitig, das ist das Gute“, sagt Magamed aus Tschetschenien. Politiker wie Kurz will er keinesfalls werden. „Ich will auf der ,Bodenkultur‘ studieren.“Vom Geschichtslehrer hatte Kurz einst zur Matura die ungewöhnliche Aufgabe gestellt bekommen, eine Ansprache über den Friedensvertrag von Versailles zu halten.
Im Jahr nach dem Versailler Vertrag kam Franz Fürlinger auf die Welt. Er wohnt schon etwas länger in Meidling als Kurz – seit 90 Jahren – und stapft gerade mit zwei Blumensträußen in der Hand nach Hause. Der fast 98-jährige Ex-Lateinund Griechischlehrer wohnt im etwas grüneren Teil Meidlings, hinter dem Springer-Schlössl, der in Immobilienanzeigen schon einmal als Tivoli-Cottage firmiert. „Ich wünsche ihm viel Glück und gute Berater“, sagt er in Richtung Kurz. „Er allein schafft es nicht.“Immerhin, einer seiner alten Maturanten, ein früherer Wirtschaftsminister, hat Fürlinger verraten, dass Kurz von Wolfgang Schüssel beraten wird: „Und Schüssel, der war schlau. Was Kurz politisch leistet, ist abzuwarten. Wenn er mich gefragt hätte, hätte ich ihm g’sagt: Diplomaten in der österreichischen Tradition garantieren Erfolg – aber in der ÖVP hat bisher noch nie einer alle unter einen Hut gebracht.“
„ÖVP ist nicht unter an’ Hut zu bringen.“ Franz Fürlinger, 97-jähriger Meidlinger