„Es fehlt eine echte andere Vision“
Im deutschen Bundestagswahlkampf geht es nicht um die für unsere Zukunft wichtigen Fragen. Das beklagt der bekannte Schriftsteller und Historiker Philipp Blom in einem SN-Interview.
Nur noch ein paar Tage Wahlkampf bis zur Bundestagswahl am 24. September. Ungenügend sei die politische Debatte, sagt Philipp Blom. SN: Beobachter sagen, in Deutschland finde ein Wohlfühl-Wahlkampf statt. Haben auch Sie den Eindruck, dass die Wahlkämpfer den Bürgern gar nicht vor Augen führen, „was auf dem Spiel steht“? Philipp Blom: Ich war soeben in Berlin, und es ist erstaunlich, die Plakate dort zu sehen. Es ist zumindest von den beiden Hauptparteien CDU/CSU und SPD ein Wahlkampf, der völlig frei ist von Politik. Martin Schulz findet: „Es ist Zeit.“Angela Merkel ist „erfolgreich für Deutschland“. Aber politische Inhalte kommen im Wahlkampf so wenig wie nur möglich vor. Die tatsächlichen Herausforderungen unserer Gesellschaft werden wirklich ausgespart. Es geht gerade nicht um die Themen, die wichtig sein könnten. SN: Was wären denn die Zukunftsthemen, um die es im Wahlkampf vor allem gehen müsste? Politik kann ja, um sinnvoll zu sein, nicht in Vier-Jahres-Rhythmen denken. Wir stehen vor einer großen Welle von Digitalisierung. Wir haben mit dem Klimawandel international zu kämpfen – und mit seinen Konsequenzen wie der Migration. Das bedeutet, dass wir darüber nachdenken sollten, wie wir unsere Länder und unsere Gesellschaften zukunftsfähig machen könnten. Anstatt zu versuchen, nur an dem festzuhalten, was wir haben, aber wahrscheinlich nicht werden behalten können. SN: Stichwort Digitalisierung. Sie bringt einen gewaltigen Umbruch unserer Arbeitswelt und große Jobverluste. Warum scheuen sich die Wahlkämpfer, den Bürgern die Wahrheit darüber zu sagen? Es ist natürlich ein ungewisses Thema. Wir wissen alle nicht, was passieren wird, weil so etwas in der Menschheitsgeschichte noch nicht geschehen ist. Wir müssen begreifen: Zur industriellen Revolution, wo menschliche Arbeit durch Maschinen ersetzt worden ist, gibt es jetzt einen riesigen Unterschied. Prozessoren sind nicht nur bald viel schneller als menschliche Hirne; diese Systeme sind vor allem darauf ausgerichtet, selbst zu lernen. Maschinen sind also nichts Starres mehr, und das wird alles ändern.
In England ist gerade eine Studie von offizieller Seite erschienen, die annimmt, dass in der Privatwirtschaft in den nächsten zehn Jahren vier Millionen Jobs verloren gehen – an Technologie, an die Roboter. Das heißt, dass wir künftig viel mehr Arbeitslose haben werden als heute. Bei einer Wahl wäre die große Notwendigkeit, sich gemeinsam darüber Gedanken zu machen, wie wir mit dieser Situation umgehen.
Lassen wir es zu einer Krise kommen, weil der Wohlstand zwar weiterhin geschaffen wird, aber durch Maschinen, während Millionen Menschen keinen Job und keine Teilhabe an der Gesellschaft haben? Oder versuchen wir, Einkommen insofern gerecht umzuverteilen, als wir diese Profite für ein Grundeinkommen benutzen, und bemühen wir uns, ein anderes Verständnis von Arbeit zu entwickeln und auch davon, was ein Mensch wert ist für eine Gesellschaft? SN: Wie muss sich demzufolge auch unser Bildungssystem ändern? Wenn längst nicht mehr für alle Menschen nach der Schulzeit Jobs zur Verfügung stehen, die ihnen erlauben, den vollen Lebensunterhalt zu verdienen, muss man Menschen sinnvollerweise auf ein ganz anderes Lebensmodell vorbereiten.
Dann muss man ihnen beibringen, wirklich flexibel zu denken. Das heißt, Probleme im Prinzip genauso generalistisch anzugehen, wie das die Computersysteme können. Und eben nicht nur auf das Funktionieren im Jobmarkt hin ausgebildet und trainiert zu werden.
Es wäre viel wichtiger, bei Menschen, die in einer digitalisierten Gesellschaft, in einer komplexen Welt leben werden, ob sie das wollen oder nicht, das unabhängige Denken zu kultivieren; diesen Menschen also einen Wissensstand zu geben, der ihnen erlaubt, tatsächlich mündig teilzunehmen an demokratischen Entscheidungen. Denn das setzt voraus, dass sie Prozesse wie Digitalisierung und Klimawandel verstehen. SN: Angela Merkel hat sich den Ruf einer „Klimakanzlerin“erworben. Aber kommt nicht auch der Klimawandel samt seinen Konsequenzen zu kurz in diesem Wahlkampf? Ja, leider ist dies der Fall. Dabei ist es dafür, dass wir auch in 20 oder 30 Jahren Länder haben, in denen wir leben können und wollen, doch essenziell, dass wir wegkommen von fossilen Brennstoffen, vom Hyperkonsum. Denn die Geschwindigkeit, mit der wir unersetzbare Rohstoffe verbrauchen und in Öl verwandeln, können wir einfach nicht länger aufrechterhalten.
Die Massenmigrationen der vergangenen Jahre sind zum großen Teil direkte oder indirekte Konsequenzen des Klimawandels gewesen. Eine Studie hat gezeigt, dass es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen dem Aufstand in Syrien und der seit 800 Jahren stärksten Dürre in der arabischen Welt – mit Zehntausenden von Bauern, die in die Städte haben fliehen müssen, weil sie mit ihrer Arbeit auf dem Land einfach nicht mehr überleben konnten.
Das sind die Muster auch für künftige Konflikte. Dadurch, dass Regionen veröden, versteppen oder überschwemmt werden, verlieren Millionen Menschen ihre Heimat und müssen irgendwohin. Das heißt, der Klimawandel betrifft uns ganz unmittelbar. Auch die Menschen, die von den brutalen Seiten unserer Wohlstandsgesellschaft betroffen sind, aber von uns ganz an die Peripherie unserer Wahrnehmung weggeschoben worden sind, bleiben nicht mehr da, wo sie sind, sondern kommen zum Teil in unsere Gesellschaften. Sie stammen aus den Gegenden, aus denen wir unsere billigen Rohstoffe beziehen oder wo wir unsere billigen Konsumgüter fertigen lassen. In dieser Migrationsbewegung sehen wir also die Konsequenzen unseres kollektiven Handelns. Sie werden sich häufen, und sie werden gravierender werden. Wir sind reich als Gesellschaften. Deshalb können wir Zeit kaufen bei vielen dieser Probleme. Aber das ist Zeit, die wir uns borgen; das wird nicht ewig möglich sein. Der beste Zeitpunkt, um diese Probleme gemeinsam anzupacken, ist natürlich dann, wenn wir (noch) das Geld, die Ressourcen und die stabilen Demokratien dafür haben. SN: Müsste nicht auch viel mehr über Generationengerechtigkeit gesprochen werden, wenn unsere Gesellschaft zukunftsfähig bleiben will? Den Jungen von heute werden ja nicht nur die Pensionskosten einer stark zunehmenden Gesellschaft der Alten aufgebürdet, sondern auch die riesigen Lasten der Klimakrise. Gerade weil junge Menschen so strukturell benachteiligt werden in unseren Gesellschaften bei der Entscheidungsfindung, gerade weil sie es sind, die mit den Konsequenzen der jetzt getroffenen Entscheidungen leben müssen, würde ich mir wünschen, dass sich junge Europäer zwischen 16 und 30 zusammentun – das sind rund 100 Millionen Menschen – und gemeinsam eine europäische direkte Wahl abhalten. Sie sollten eine Abordnung nach Brüssel schicken, die nicht nur verlangt, reden zu dürfen, sondern wirkliche politische Macht einfordert. Das heißt: bei jedem Gesetz ein Vetorecht zu haben und auch legislative Initiative. Junge Menschen müssen heute für ein Europa kämpfen, das in 30 oder 40 Jahren noch ein Kontinent ist, auf dem sie ihre eigenen Kinder aufziehen wollen. SN: Lässt sich das Potenzial der autoritären Nationalisten wie der AfD auf Dauer begrenzen in einer Zeit, in der Finanzmärkte nicht strikt reguliert sind ? Um es mit einem Wort zu sagen: nein. Eine demokratische Gesellschaft kann nur bestehen, wenn sie eine gewisse geteilte Hoffnung anbietet. Aber wenn kaum noch jemand annimmt, dass es den eigenen Kindern einmal besser gehen wird als uns heute, ist die soziale Hoffnung nicht mehr da. In einer Finanzwelt, die längst nicht mehr kontrollierbar ist, ist die nächste Krise wirklich nur eine Frage der Zeit. Dann ist es durchaus möglich, dass Menschen den einfachen Lösungen eines Populisten mehr vertrauen als den komplizierten Kompromissen von Demokraten. SN: Insgesamt schildern Sie ja nicht gerade ein rosiges Szenario. Können politische Parteien, die um die Macht ringen, solche Problemthemen und so viele davon in einem Wahlkampf darlegen? Sicherlich nicht alle Themen auf einmal; da gehört auch strategisches Denken dazu. Wenn Politiker den Mut hätten zu sagen, wir müssen gemeinsam über diese Themen sprechen, wären Menschen für diese Ideen empfänglich. Schlimm ist ja diese Alternativlosigkeit: Es gibt niemanden, der eine echte andere Vision anbietet. Letztlich ist zwischen Angela Merkel und Martin Schulz nicht viel zu wählen; da geht es nur um ein paar Akzente hier oder da. Wir brauchen aber einen öffentlichen Diskurs, der diese Zukunftsfragen erörtert; der Visionen sowie Modelle und pragmatische Lösungen gegeneinander abwägt. Philipp Blom,