Über die Tyrannen in Europa
„Es gibt in jedem Volke Tausende potenzielle Hitler und Stalin, doch nur selten gelingt einem von ihnen der Aufstieg zur absoluten Macht.“Diese Erkenntnis wurde vor 80 Jahren formuliert. Was hat sie uns heute zu sagen?
„Wien, Oktober 1937“. Dieses lapidare Datum hat Manès Sperber unter eine Arbeit mit dem Titel „Zur Analyse der Tyrannis“gesetzt. In diesem Text, eben also 80 Jahre alt (erschienen 1939 in Paris), schreibt der Individualpsychologe aus der Schule des Wieners Alfred Adler: „Die Tyrannis, das ist nicht nur der Tyrann, allein oder mit seinen Komplizen, sondern das sind auch die Untertanen, seine Opfer, die ihn zum Tyrannen gemacht haben.“
Bei aller „Aufarbeitung“der Jahre etwa zwischen 1930 und 1950 hat man übersehen oder absichtlich beiseitegelassen, dass nicht wenige zu ihrer Zeit wichtige Schriften kein Ablaufdatum aufweisen; sie sind nicht nur eindeutig für die Zeit, in der sie geschrieben und, wenn möglich, publiziert wurden, sondern auch waghalsig, schier selbstmörderisch gewesen. Und weise, in eigentlichem Sinn: prophetisch, in die Zukunft, unsere Gegenwart, vorausgeschrieben.
So kann man diese TyrannisAnalyse lesen. Man tut aber gut daran, die Dankesrede des aus dem ostgalizischen Zablotow stammenden, ab 1934 in Paris ansässigen Philosophen und Sozialpsychologen Manès Sperber für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels des Jahres 1983 dazuzustellen. Denn der 1937 nach den Stalinistischen Säuberungsprozessen aus der Kommunistischen Partei ausgetretene Sperber hat darin auch sein europäisches Vermächtnis nach zwei Weltkriegen mit ihren Totalitarismen samt Holocaust niedergelegt.
„Ich bin ein europäischer Jude, der jeden Augenblick dessen bewusst bleibt, ein Überlebender zu sein, und der nie die Jahre vergisst, in denen ein Jude zu sein ein todeswürdiges Verbrechen gewesen ist“, ist dazu andernorts zu lesen. Und zu einer Neuauflage der „Tyrannis“1974 notierte Sperber im Vorwort: „Es gibt in jedem Volke Tausende potenzielle Hitler und Stalin, doch nur selten gelingt einem von ihnen der Aufstieg zur absoluten Macht, in der er endlich die Erfüllung seines unzähmbaren Wunsches nach Gottähnlichkeit findet.“
Damit ist man schon fast in der Gegenwart unserer Tage angekommen – von Erdoğan und Putin über Orbán und Kaczyński bis zu Trump: „Der Tyrann ist gut darauf vorbereitet, durch den Schrecken zu herrschen. Ihm imponiert ja der Schrecken selber. Er würde am liebsten selber mitzittern wollen in jenem Augenblicke, in dem er brüllend droht: Alle werde ich zertrümmern. Der große Augenblick seines Lebens ist erreicht.“
Man kann, so weiß es der Tyrann, nicht darauf warten, dass Taten begangen werden, denn dann ist es zu spät. Also werden Meinungen verboten, was nicht genügt: „Es müssen die Worte, die ein Freund zum Freund spricht, verboten werden, ja, es muss der Gedanke selbst, und bliebe er unausgesprochen, verboten werden.“
Belege für heute gibt es zuhauf. Die unzähligen Berichte der internationalen Presse über Verhaftungen und Anklagen etwa in der Türkei seien als nur ein Beispiel genannt. „Sie mögen mich hassen, wenn sie mich nur fürchten“, sagt der Tyrann bei Sperber, ein antikes Sprichwort zitierend.
Der Tyrann muss daran denken, dass es unter den Millionen, die ihm zujubeln, einen gibt oder auch viele, die seine Tyrannis gefährden. So lange darf er nicht ruhig schlafen. Ist es einer der Leibwächter? Einer seiner Freunde? Caesar kannte das; Shakespeare lässt ihn sagen: „Lasst wohlbeleibte Männer um mich sein, mit kahlen Köpfen, die nachts gut schlafen.“Und argwöhnend: „Der Cassius dort hat einen hohlen Blick; er denkt zu viel, die Leute sind gefährlich.“Und schließlich, resignierend, mit dem Dolch in der Brust: „Auch du, Brutus?“
Es gibt viele Bilder von Muslimen beim gemeinsamen Gebet in der Moschee, kniend, gebeugt, man sieht keine Köpfe. Dazu 1937 Sperber: „Wenn der Tyrann auf sein Volk sieht, und er sieht nur gebeugte Rücken, so darf er dessen nicht lange froh bleiben. Er fühlt sich betrogen: Wo sind die Köpfe?“Daher, prinzipiell, zur Prophylaxe der Tyrannis: „Jede Idee, die einen Menschen übermenschlich erscheinen lässt, ist gegen alle anderen Menschen gerichtet. Sie ist menschenfeindlich.“
All das war eine wissenschaftliche Arbeit, die ihre Aktualität zur nationalsozialistischen, kommunistischen und faschistischen Ära hatte. Und die nach 80 Jahren nichts von der Richtigkeit ihrer Einsichten eingebüßt hat. Das, was sich anhand dieser Analyse an diesen tyrannischen Egomanen weltweit beobachten lässt, gewinnt nochmals an Aktualität und auch Fahrt, liest man Sperbers bereits erwähnte Dankesrede für den Friedenspreis im Hinblick auf die gegenwärtige Situation der Europäischen Union. Man gewinnt den Eindruck, der Philosoph hätte viele der Schwierigkeiten vorausgesehen – wiewohl der damalige Status mit zwei Blöcken, das totalitäre Russland und die USA, nicht auflösbar schien.
Einen Rettungsanker wirft Sperber aus: „Für einen Europäer meiner Generation, aber auch für die Nachgeborenen, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Europa sich und zugleich seine unübertrefflichen Werte retten kann, wenn es föderativ vereint und, statt Zankapfel zwischen zwei Supermächten zu sein, selbst zu einer Großmacht wird, die weder eroberungs- noch rachsüchtig, jedoch aufs Äußerste entschlossen bleibt, durch eigene, zulängliche Abwehrkräfte jene abzuschrecken, die sich durch seine Schwäche und den eigenen Hegemonismus ermutigt fühlen können, sich Europas zu bemächtigen.“
Und er setzt sein europäisches Vermächtnis ganz eindeutig fort: „Wie auch immer die Beziehungen zwischen Amerika und Russland sich gestalten mögen, Europa wird sich nicht dank masochistischer Wehrlosigkeit, sondern nur dann aus deren Konflikten heraushalten können, wenn es selbst eine Supermacht geworden sein wird, so abschreckend wie jene Riesenstaaten. Das ist unsäglich traurig (. . .) Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren.“
Man könnte es dabei bewenden lassen, würde aber Sperbers Intentionen nicht gerecht, ließe man außer Acht, dass diese Tyrannen und autoritären Herrscher irgendwann einmal in ihrem Leben, zumeist in der Jugend und Adoleszenz, Verletzungen und Herabwürdigungen erlitten haben, die sie, selbst ursprünglich Ängstliche, zu selbstherrlichen Potentaten erwachsen ließen. So muss man wohl fragen: Was hat Erdoğan veranlasst, sich um 180 Grad zu drehen? Welche Traumata spielen möglicherweise eine Rolle? Was hat den Polen Kaczyński auf seinen extrem nationalistischen Kurs gebracht? War es der Absturz seines Bruders mit dem Flugzeug, von dem er glaubt und überzeugt ist, dass dieser von einem Geheimdienst herbeigeführt wurde? Und Viktor Orbán, der vor 30 Jahren erlebt hat, „wie sehr autonome Institutionen ein autoritäres Regime unterminieren können“, soll 1990 beim Einzug in das Parlament von einem liberalen Intellektuellen an der nicht korrekt sitzenden Krawatte gezogen worden sein mit den Worten: „Viktorchen, das lernen wir noch.“Orbán sei puterrot geworden. Im Unter- und Hintergrund geht es dabei immer um die Frage und das Gefühl, ob die Würde eines Menschen verletzt wird, bewusst oder unbewusst.
All diese Verletzungen stellen weder Rechtfertigung noch Entschuldigung für das Verhalten der Caesaren dieser Welt dar. Sie erklären, wohin man sehen muss, um Handlungen und Reaktionen dieser Usurpatoren zu verstehen und womöglich vorauszusehen.
Jenka Sperber zitiert eine Notiz ihres Mannes, die zu den Vorgängen um Nordkorea von heute passt: „Die Atomwaffe (. . .) Es ist offenbar, dass diese Waffe die ideale Waffe eines autoritären, vor allem monolithischen Staatssystems wäre, das weder vorher noch während des Vorgangs sich in demokratischer Weise um die Zustimmung einer Volkswählerschaft bemühen müsste. Und es ist klar, dass diese Mächte diese Waffe umso schneller und lieber verwenden würden, je offenbarer es wäre, dass die Angegriffenen nicht mit gleicher Münze heimzahlen könnten.“
In seinen Augen sei es keineswegs entscheidend, ob man bezüglich dieses oder jenes politischen Problems übereinstimme, meinte Manès Sperber: „Worauf es ankommt, ist das Vertrauen.“
„Die Atomwaffe ist die ideale Waffe eines autoritären Systems.“ Manès Sperber, Sozialpsychologe