Der europäische Traum ist in Gefahr
Mit dem starken Zustrom von Flüchtlingen hat für die Europäische Union der „ultimative Testfall“begonnen. Das erläutert die Kulturwissenschafterin Aleida Assmann, die einen ungewöhnlichen Blick auf unseren Kontinent wirft.
MARSEILLE. 2015 ist für Europa eine ebenso gravierende Jahreszahl wie 1945 und 1989. Der Zustrom von Flüchtlingen führt die EU an eine ebenso markante Wende wie das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Fall des Eisernen Vorhangs. Diese These vertritt die deutsche Kulturwissenschafterin Aleida Assmann und folgert: Die EU „muss sich wieder neu erfinden“. Dazu müssten sich die Europäer ihres „europäischen Traumes“gewahr werden.
Das ist ein großes Wort. Immerhin folgten auf das Ende des Zweiten Weltkriegs der Vertrag von Rom und die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, die später zur EU wurde. Und der deutschen Wiedervereinigung folgte die Einführung des Euro. Und jetzt?
Eine Dringlichkeit zur Erneuerung zeige sich an den jüngsten Reden von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker; wohin genau allerdings die nächste Änderung führen werde, sei noch ungewiss, sagte Aleida Assmann in Marseille, wo am Freitag das sechste EU-Symposium „Europa neu denken“begonnen hat. Diese von der EU-Kommission mitfinanzierte Konferenzserie hat der Salzburger Universitätsprofessor Michael Fischer 2012 begründet; sie wird auch nach seinem Tod 2014 fortgeführt. EU-Kommissar Johannes Hahn hat die Patronanz übernommen.
Entscheidend für das Gelingen einer Erneuerung der EU sei die Besinnung auf den europäischen Traum, sagt Aleida Assmann beim „Michael-Fischer-Symposium“in Marseille. Dieser beruhe auf einer „doppelten Verwandlung“, die nach den zwei Weltkriegen gelungen sei: Erstens hätten sich einstige Todfeinde in kooperierende Nachbarn verwandelt, zweitens seien aus Diktaturen Demokratien geworden. Diese Fähigkeit zu Frieden und Freiheit sei um die Menschenrechte angereichert worden. Die sind seit 2000 mit der EU-Grundrechtscharta im EU-Recht. Die Menschenrechte seien „die Ideologie der Europäer“geworden, betont Assmann.
Der europäische Traum vom nachbarschaftlichen, konsensbereiten und respektvollen Miteinander habe sich bewährt, hingegen habe der „amerikanische Traum“ausgedient, wonach sich jeder gegen andere durchsetzen könne, um Profit zu machen, stellt Aleida Assmann fest. Der „amerikanische Traum“führe zu Vereinzelung – „das ist ein Holzweg“. Wer hingegen europäisch träume, sei gut „mit Visionen und Idealen ausgestattet“.
Trotzdem ist der europäische Traum von Frieden, Freiheit und Menschenrechten in der EU wenig populär. Zudem sind es vor allem zwei Gefahren, die der EU so zusetzen, dass sie zerbrechen und wieder in eine Vielzahl von Nationalstaaten zurückfallen könnte.
Das eine sind die von Land zu Land noch immer unterschiedlich gepflegten Erinnerungen an die Kriege des 20. Jahrhunderts. Dies könne gefährlich sein, denn eine Gesellschaft „lebt von Erfahrung mit Geschichte“, warnt Aleida Assmann. „Europa ist eine Lerngemeinschaft.“Während in Westeuropa seit 1990, als die im Kalten Krieg gepflegte „Kultur des Vergessens“beendet wurde, das historisch bis dahin einzigartige Erinnern an Schuld für massenhafte Gewalt eingesetzt hat, während außerdem die westeuropäischen Staaten dabei sind, den aus Sieger- und Opfermythen genährten Nationalismus zu überwinden, wird in osteuropäischen Ländern ein Mangel an Nationalstaat evident. Diese „sehen in der EU keine Infragestellung ihrer Nationen, sondern vor allem deren Schutzmacht“, stellt Aleida Assmann fest. Zudem wird der Unterschied zwischen der westeuropäischen Abwendung vom Nationalismus und der osteuropäischen Zuwendung zu nationaler Abgrenzung seit 2015 im Streit um die Flüchtlinge virulenter denn je.
Der europäische Traum eröffnet auch einen ungewöhnlichen Blick auf den Brexit: Während fast alle EU-Länder im 20. Jahrhundert Diktaturen erlebt haben, sei es unter Salazar, Franco, Mussolini, Hitler, Stalin oder Tito, war das Vereinigte Königreich davon verschont. Für Großbritannien fehlt also der Kitt, am europäischen Traum der Überwindung von Diktatur aus eigener Erfahrung teilzuhaben.
Die zweite Gefahr für den europäischen Traum kommt laut Assmann aus dem 2015 begonnenen Zustrom von Flüchtlingen. Viele EU-Bürger nähmen dies als Bedrohung wahr: als Angst vor Identitätsverlust und materiellem Verlust, als Angst um Sicherheit. Diese Ängste erschwerten es, Schutzsuchenden zu helfen. Dies sei „der ultimative Testfall“Europas. Anders gesagt: Eine Säule des europäischen Traums, jene der Menschenrechte, droht Standkraft zu verlieren.