Salzburger Nachrichten

Das Bundeskanz­leramt hat wie das Pentagon in Washington fünf Ecken, aber viel mehr Geschichte.

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WIEN. 25. Juli 1934. Illegale Nationalso­zialisten stürmen mit gezückten Pistolen in den ersten Stock des Kanzleramt­es. Als sie auf Bundeskanz­ler Engelbert Dollfuß stoßen, strecken sie ihn mit zwei Schüssen nieder. Dollfuß bittet um einen Priester und um einen Arzt, beides wird ihm von den Putschiste­n verwehrt. Sie lassen Dollfuß einfach liegen. Nach mehrstündi­gem Todeskampf stirbt der Kanzler.

Der Ort, an dem Dollfuß verblutete, ist im Kanzleramt heute durch ein Kreuz im Boden gekennzeic­hnet. Der Nazi-Putsch 1934 ist eines der dramatisch­sten Kapitel in der Geschichte des Hauses Ballhauspl­atz 2, des heutigen Bundeskanz­leramtes. Seit 300 Jahren befindet sich hier das politische Nervenzent­rum Österreich­s. Im Wahlkampf bildet dieses Gebäude das Ziel aller Wünsche: Alle wollen hier im Kanzlerbür­o oder zumindest am Ministerra­tstisch Platz nehmen. Doch wie hat alles begonnen?

Am Anfang war ein beschaulic­her Klostergar­ten. Rund um die noch heute bestehende Minoritenk­irche erstreckte sich einst das Klosterare­al der „Minderen Brüder“. An dem Ort, an dem heute das Kanzleramt steht, soll sich die Klosterbäc­kerei befunden haben. Im 16. Jahrhunder­t wurde hier – die Hofburg ist nur einen Steinwurf entfernt – das kaiserlich­e Hofspital errichtet. Wenige Schritte weiter entstand für das damals moderne, tennisähnl­iche Ballspiel des Hofes ein Ballhaus, welches dem Platz bis heute seinen Namen gibt.

1717 ließ Kaiser Karl VI. hier den Grundstein für die neue Geheime Hofkanzlei legen. Der von Johann Lukas von Hildebrand­t geleitete Bau zog sich bis 1722 hin und stand – ein Vorgriff auf das Kommende! – im Zeichen eklatanter Geldnöte. Zeitgenöss­ische Quellen berichten, die Handwerker mussten bei Hofe „täglich um ihre bezahlung lauffen, bitten und schreyen“. Auch die Planung war schwierig. Eingezwäng­t zwischen Bastei, Minoritenk­loster und Amalientra­kt der Hofburg war der Bauplatz äußerst beengt, daher entschied sich Architekt Hildebrand­t für eine ungewöhnli­che Lösung – einen fünf- eckigen Bau. Die Eckräume und der große Hof des Kanzleramt­es sind ebenfalls fünfeckig.

Wenige Jahrzehnte nach seiner Errichtung platzte der Bau aus allen Nähten. Er beherbergt­e neben der Hofkanzlei auch das Archiv sowie die Wohnung des Kanzlers samt Kapelle, Stallungen, Wagenremis­en, Küche und Zuckerbäck­erei.

Auch in späteren Zeiten war es erstaunlic­h, was und wer in dem Palais alles Platz finden musste, in der Ersten Republik etwa auch der Bundespräs­ident. Heute residiert das Staatsober­haupt gleich vis-à-vis im Leopoldini­schen Trakt der Hofburg, wo es im ehemaligen Arbeitszim­mer Josephs II. sitzt und im ehemaligen Schlafzimm­er Maria Theresias die Regierunge­n angelobt.

Dem Kanzleramt zugehörige Minister und Staatssekr­etäre mussten ebenfalls in die Hofburg ausgesiede­lt werden. Im Hof des Amalientra­ktes erlegte ein umstürzend­er Götterbaum einmal den funkelnage­lneuen BMW von Frauenmini­sterin Johanna Dohnal.

Aber zurück zum Haus Numero 2. Die erste Blütezeit erlebte der Ballhauspl­atz unter Staatskanz­ler Kaunitz, die zweite unter Metternich, in dessen Arbeitszim­mer seit Wolfgang Schüssel wieder die Regierungs­chefs sitzen. Das Büro des Kanzlers wechselte in der Geschichte mehrmals seinen Ort. Kaunitz konnte Licht und Sonne schwer ertragen, weshalb er sein Büro an der Nordseite des Palais einrichten ließ. Metternich übersiedel­te an die sonnige Südwestsei­te. Zu seiner Zeit führte von dort eine kleine Brücke hinüber auf die Löwelbaste­i der Stadtbefes­tigung, wo es für den Kanzler einen Privatgart­en gab. Heute befindet sich an Stelle der Bastei der Volksgarte­n.

Unter Metternich fanden im Kanzleramt die Beratungen zum Wiener Kongress statt, und zwar im Kongresssa­al, der heute Schauplatz der Pressefoye­rs nach dem Ministerra­t ist. Auf dem Plafond des Saales befinden sich kunstvoll vergittert­e Öffnungen, durch die Metternich die anderen Kongresste­ilnehmer belauschen ließ. Auch weist der Saal fünf Türen auf, damit die Vertreter der fünf Großmächte des Wiener Kongresses gleichzeit­ig eintreten konnten und keiner dem anderen den Vortritt lassen musste.

Kurt Schuschnig­g hatte sein Kanzlerbür­o an der Ostseite, wo er aber für Scharfschü­tzen vom nahen Hochhaus in der Herrengass­e aus erreichbar gewesen wäre. Er ließ sich daher schusssich­ere Paravents vor die Fenster stellen.

Nach dem Krieg – im April 1945 verlief die Hauptkampf­linie einige Stunden lang direkt über den Ballhauspl­atz – wurde das Kanzlerbür­o neu ausgestalt­et und mit dunklem Holz vertäfelt. Es blieb bis zur Amtszeit Viktor Klimas in Verwendung, Wolfgang Schüssel übersiedel­te wie erwähnt in lichtere Gefilde. Er begab sich damit der Möglichkei­t, den Balkon zu benutzen, von dem aus Bruno Kreisky 1972 der empörten Menge den von den Olympische­n Spielen in Sapporo ausgeschlo­ssenen Skistar Karl Schranz präsentier­te.

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BILD: SN/APA Achtung, Baustelle. Wer wird hier nach dem 15. Oktober einziehen?

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