Eine Debütantin harrt auf den Buchpreis
Sasha Marianna Salzmann bietet im ersten Roman ein brillantes Vexierspiel von Ich und Du, Sie und Er.
Was ist eigenes Leben? Und wo fängt die Fantasie an? Sasha Marianna Salzmann, Hausautorin des Berliner Maxim-GorkiTheaters, hat in ihrem furiosen Debütroman „Außer sich“die Grenzen gekonnt verwischt. Selbst in Russland geboren und als jüdisches Flüchtlingskind in Deutschland aufgewachsen, erzählt die 32-Jährige eine Geschichte von Entwurzelung, Heimatlosigkeit und der Suche nach der Identität. Damit hat sie es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft. Mit diesem wird kommende Woche, zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse, der beste deutschsprachige Roman ausgezeichnet.
Ihre Heldin Alissa lebt in einer aus den Fugen geratenen Welt. In der Sowjetunion als „Judensau“beschimpft und in Deutschland von den Klassenkameraden mit „Russki, Russki, ficki ficki“empfangen, wird ihr Bruder Anton zur einzigen Sicherheit ihres Lebens. Als der Zwilling plötzlich verschwindet, macht sie sich in Istanbul auf die Suche nach ihm. Doch in der brodelnden Millionenmetropole wird aus der Sehnsucht nach dem Vermissten immer mehr die Frage nach eigenen Wurzeln. „Ich kann mich nicht sehen, habe keine Erinnerungen, habe eine Nabelschnur, die ins Nichts führt“, sagt sie. Der Tänzer Katho, der früher Katüscha hieß und eine Frau war, ehe er in ihren Mund ejakulieren konnte, wird zum Vorbild. Auch Alissa besorgt sich auf den Straßen Istanbuls Testosteron und lässt sich Anton nennen. „Ich hatte ein Ziel, aber es musste auf mich zugestolpert kommen.“
Marianna Salzmann hat schon in ihrer Theaterarbeit bewiesen, wie souverän sie mit so schwierigen Themen umgeht. Nach einem Studium in Hildesheim und Berlin gewann sie mit ihren ersten Stücken „Weißbrotmusik“und „Muttermale Fenster Blau“Auszeichnungen. Der deutschjüdische Generationenkonflikt „Muttersprache Mameloschn“brachte 2013 den großen Durchbruch. Seitdem ist sie Hausautorin am Gorki. Während eines Stipendiums an der deutschen Kulturakademie Tarabya in Istanbul 2012/13 begann die Arbeit an ihrem Romandebüt.
Die angespannte Situation in der Türkei von den ersten Demonstrationen auf dem Taksim-Platz bis zum blutig niedergeschlagenen Putschversuch von 2016 ist der Hintergrund dieser Erzählung. Damit verwebt sie die wechselvolle Geschichte Europas von der Russischen Revolution bis zur Besetzung der Krim, wenn sie Ali alias Anton auf der Spurensuche nach seinen familiären Wurzeln begleitet. Da sind die Urgroßeltern Etja und Schura, stolze Ärzte, die auch nach den Gräueln der Stalin-Zeit den Glauben an den Sozialismus nicht verlieren wollen. Da sind die Großeltern Emma und Daniil, die auch noch angesichts von Alissas sprießendem Bart am Bild der langhaarigen Enkeltochter festhalten. Und da sind schließlich die Eltern Valentina und Konstantin, die auf je unterschiedliche Weise am Leben in der Fremde zerbrechen.