Reisen mit Handicap. Barrierefreier Urlaub ist noch nicht selbstverständlich. Sollte er aber sein – es zahlt sich aus.
Reisen für alle. Barrierefreier Urlaub ist noch nicht selbstverständlich. Sollte er aber sein – es zahlt sich aus.
Es kann einen in jeder Lebenslage erwischen.“Christl Döllerer weiß, dass nicht immer alles glattgeht. Und dass Beeinträchtigungen jederzeit möglich sind, vorübergehend oder auf Dauer. „Das Thema Barrierefreiheit fällt einem erst auf, wenn man selbst etwas hat. Und sei es nur ein Gipsfuß.“
Als der altehrwürdige „Döllerer“, ein Vier-Sterne-Familienbetrieb im Herzen von Golling, vor fünf Jahren grundlegend umgebaut wurde, wurde Wert darauf gelegt, dass sich alle wohlfühlen und rundum versorgt sind. Etwa durch einen neuen Lift, der die Räume für jeden zugänglich macht, ob mit Rollstuhl oder Kinderwagen. Oder durch das erstaunliche „barrierefreie Hören“: Mithilfe technischer Wunderwerke wie Induktionsschlinge und -verstärker und eines eigenen „Hotelsets für barrierefreies Hören“in den Zimmern und sogar im Seminarbereich sind auch Gäste mit Hörminderung unabhängig und „live dabei“. Gar nicht einfach, bei einem historischen Haus mit vielen Zwischengeschoßen und Treppen.
Doch die Investition lohnt sich auf jeden Fall. Denn die Klientel ist reisefreudig. Von rund 50 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen allein in der EU buchen fast 29 Millionen regelmäßig barrierefreie Unterkünfte. Dazu kommt, dass jeder dieser Gäste durchschnittlich von zwei Personen begleitet wird.
„Das ist ein Riesenmarkt“, sagt Michael Sicher. „Prognosen sprechen für das Jahr 2020 von 468 Millionen Buchungen von barrierefreien Zimmern in der EU.“Die wollen gut gewählt sein. Der Coach und Berater, der selbst seit seiner Jugend im Rollstuhl sitzt und bei seinen Wien-Besuchen Stammgast im Austria Trend Hotel Savoyen ist, kennt die kleinen und großen Hindernisse, die all jenen, die nicht mobil sind, das Leben schwer machen können. Auf seiner Website Roomchooser stellt er gezielt Bilder der Zimmer dar, die alles zeigen, was wichtig ist. „Statt seitenlanger Maßangaben“, sagt er und schmunzelt.
Tourismusbetriebe – nicht zuletzt in Österreich – könnten auch mit weniger großen Investitionen bereits eine gute Wirkung erzielen. Davon ist der Experte für barrierefreien Tourismus, Peter Neumann, überzeugt. Durch Vermeidung von Drehtüren, Verbreiterung oft zu schmaler Eingänge, Anbringung manchmal fehlender Handläufe bei Aufgängen sowie besserer Markierung von Treppenabsätzen ließen sich Personen für einen Urlaub gewinnen, die wegen genau solcher Hürden oft gar nicht ans Wegfahren denken: Menschen mit Behinderung.
In einer Studie über „ökonomische Impulse eines barrierefreien Tourismus für alle“, die Neumann und sein Team im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums in Berlin erstellt haben, werden Fakten präsentiert, die auch auf Österreich übertragbar sind: Die Menschen werden immer älter, gleichermaßen steigt auch die Zahl der Personen mit Behinderung. Mehr als die Hälfte der Menschen mit Behinderungen sind über 65 Jahre alt, nur drei bis vier Prozent sind seit der Geburt behindert. Es kann also wirklich jeden treffen. Unabhängig von der Behinderungsform sei die Unterkunft mit Abstand das wichtigste Entscheidungskriterium für die Wahl des Reiseziels, zeigte die Studie.
Neumann, der an den Universitäten Münster, Lund und Perugia lehrt, will auch mit einem Vorurteil aufräumen. Barrierefreier Tourismus sei keinesfalls, wie oft argumentiert, ein Minderheitenprogramm, die Beseitigung von Hürden sei vielmehr im Interesse aller Menschen. Für etwa zehn Prozent der Bevölkerung sei Barrierefreiheit zwingend erforderlich, für dreißig bis vierzig Prozent notwendig und für hundert Prozent jedenfalls sehr komfortabel. Ein weiteres Ergebnis: Etwa jeder zweite behinderte Mensch würde häufiger reisen und eventuell auch länger verreisen, wenn es zusätzliche barrierefreie Angebote gäbe. Rund 37 Prozent der Menschen mit Mobilitätsund Aktivitätseinschränkungen haben laut Erhebung schon einmal auf eine Reise verzichtet, weil es keine barrierefreien oder behindertengerechten Unterkünfte gab.
Stichwort Städtereisen: Gerade Wien zeichnet sich hier aus. Als „tolle barrierefreie Destination“bezeichnet auch Michael Sicher die Bundeshauptstadt, mit problemlos zugänglichen Öffis und auch Museen. Sogar mit dem Riesenrad oder der Liliputbahn könne man nun fahren.
Auch die deutschen Nachbarn engagieren sich. Der barrierefreie Tourismus, sagt Carmen Hildebrandt von Erfurt Tourismus, bringe „zusätzlichen Nutzen, auch für die wichtigste Zielgruppe des Städtetourismus, die Generation 50 plus“. In Zusammenarbeit mit den lokalen Behindertenverbänden und engagierten Kooperationspartnern optimiert man in Erfurt seit 1999 die Servicekette der Stadt für Menschen mit Behinderung, der Reiseplaner „Erfurt erlebbar für alle“bündelt sämtliche Infos, die für Touristen mit Behinderungen relevant sind.
Das Fränkische Seenland entschied sich ebenfalls ganz bewusst für Barrierefreiheit und punktet mit einem Verzeichnis sämtlicher hindernisfreier Unterkünfte. Mit dem neuen Tourismusangebot wird inzwischen doppelt so viel Umsatz gemacht wie früher mit der Landwirtschaft.
Konsequenter Qualitätstourismus sollte jeden Menschen in die Lage versetzen, an jeden gewünschten Ort zu verreisen, unabhängig von Alter oder Behinderung. Barrierefreiheit bedeutet Zugänglichkeit und Benutzbarkeit von Gebäuden, Dienstleistungen und Informationen für alle, egal ob Rollstuhlfahrer, Eltern mit Kleinkindern, schwangere Frauen, Personen nicht deutscher Muttersprache, blinde, gehörlose, psychisch beeinträchtigte, chronisch kranke oder alte Menschen.
Städte, Regionen, aber auch einzelne Betriebe sind die Vorreiter. Sie schärfen das Bewusstsein und rücken Beeinträchtigungen ein wenig mehr in das alltägliche Bild. Und wie meist bringt Nachdenken auch ein Umdenken.
Katrin Koidl vom renommierten Hotel Bräuwirt in Kirchberg in Tirol hat durch einen Sportunfall in der Familie begonnen, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen.
„Querschnittgelähmte Personen können Rad fahren, schwimmen und sogar Ski fahren. Aber es gibt so wenig Infrastruktur für sie.“Bereits 2006 wurde das Viersternehotel zum „ersten komplett barrierefreien Hotel in den Kitzbüheler Alpen“umgebaut. Und die Familie Koidl bringt einiges in Bewegung: Handbiken steht ebenso auf dem Programm wie therapeutisches Reiten oder Wandern mit dem Rollstuhl. Die Tandemflüge mit dem Gleitschirm übernimmt der Hausherr selbst. Das könne nicht alles im Alleingang funktionieren, sagt Katrin Koidl. „Wir brauchen auch viele Helferlein. Die Gemeinde Kirchberg etwa hat eine Rollstuhlrampe am Badesee installiert, auch die Bergbahnen Kitzbühel arbeiten mit.“
Auch Marc Fauster ist Touristiker und durch einen Unfall in der Familie zum Experten geworden. Sein Unternehmen „Grenzenlos Barrierefrei Reisen“hat sich zum Spezialveranstalter entwickelt. Wo viele seiner Kunden gerne und viel reisen, sind andere wiederum unsicher. Da ist Kompetenz und viel Flexibilität gefragt. „Wenn der Weg in alten Städten wie Vicenza etwa über ein Kopfsteinpflaster führt, dann nehmen wir eben die Nebenstraße oder einen kleinen Bus.“Bei Fernreisen ist Fauster besonders von Asien angetan. „Die Menschen dort sind unglaublich hilfsbereit und gastfreundlich, dazu sehr respektvoll.“
Barrierefrei reisen beginnt schon bei der Buchung. „Fast alle unsere Reisebüros sind zugänglich für Rollstuhlfahrer“, sagt Birgit Reitbauer von Ruefa Reisen. Hier werden Gruppenreisen für Personen mit eingeschränkter Mobilität angeboten. Zum Beispiel „Betreutes Reisen“, eine Kooperation von Ruefa und dem Roten Kreuz – in Kroatien, Lanzarote oder Südtirol. Auch die unternehmenseigenen Austria Trend Hotels sind fast zur Gänze barrierefrei. Auch hier gab es für historische Häuser nachträgliche Umbauten und Lösungen.
Und auch TUI hat rund 1000 adaptierte Hotels und Ferienanlagen in über 80 Urlaubsländern im Angebot, die im letzten Jahr immerhin von mehr als 20.000 Urlaubern mit Handicap und deren Begleitern gebucht wurden. Vorzeigehaus: das Drei-Sterne-Kurhotel Mar y Sol auf Teneriffa. Barrierefreiheit ist in diesem rollstuhlgerechten Kurhotel in der allergiefreien Heilklimazone im Süden Teneriffas selbstverständlich. Es gibt viele behindertengerechte Einrichtungen, so auch einen Hebelift am Pool. Hilfsmittel, auch E-Rollstühle, können in der Anlage gemietet werden, alles für unbeschwerte Urlaubstage. Und auch der gesamte Magic Life Club Candia Maris Imperial von TUI ist behindertenfreundlich, alle Bereiche sind über Rampen zu erreichen und es gibt Leihrollis in der Anlage.
Bei der Planung und Anmeldung einer solchen Reise gibt’s schon während der Beratung direkt im Reservierungssystem Angaben zur Zimmerausstattung von Türbreiten bis zum Einstieg in den Pool. Platzreservierungen für behinderte Personen und eine Begleitperson ab dem Grad der Behinderung von 50 Prozent sind bei der TUI kostenfrei. Dazu hat TUI Cruises auf ihrer gesamten Flotte barrierefreie Zimmer im Angebot, mit mehr Raumfläche, breiteren Eingangs- und Badezimmertüren sowie speziellen Handläufen und einem Notfalltelefon. Barrierefreiheit als Norm.
Peter Wolf ist optimistisch. Er ist freier Journalist, Vater, Olympia-Vierter im Tischtennis und sitzt seit einer Polio-Erkrankung im Rollstuhl. Mit dem Paralympic Committee war und ist er häufig auf Reisen und möchte den Hoteliers Mut machen. „Nicht jeder benötigt ein absolut rollstuhlgerechtes Zimmer.“Breitere und nach außen zu öffnende Türen seien oft schon eine große Hilfe. Nur eines ärgert ihn: Die zwei obligatorisch behindertengerechten Zimmer in großen Hotels seien oft belegt von Gästen, die einfach nur mehr Platz möchten.