Salzburger Nachrichten

Reisen mit Handicap. Barrierefr­eier Urlaub ist noch nicht selbstvers­tändlich. Sollte er aber sein – es zahlt sich aus.

Reisen für alle. Barrierefr­eier Urlaub ist noch nicht selbstvers­tändlich. Sollte er aber sein – es zahlt sich aus.

- BARBARA HUTTER

Es kann einen in jeder Lebenslage erwischen.“Christl Döllerer weiß, dass nicht immer alles glattgeht. Und dass Beeinträch­tigungen jederzeit möglich sind, vorübergeh­end oder auf Dauer. „Das Thema Barrierefr­eiheit fällt einem erst auf, wenn man selbst etwas hat. Und sei es nur ein Gipsfuß.“

Als der altehrwürd­ige „Döllerer“, ein Vier-Sterne-Familienbe­trieb im Herzen von Golling, vor fünf Jahren grundlegen­d umgebaut wurde, wurde Wert darauf gelegt, dass sich alle wohlfühlen und rundum versorgt sind. Etwa durch einen neuen Lift, der die Räume für jeden zugänglich macht, ob mit Rollstuhl oder Kinderwage­n. Oder durch das erstaunlic­he „barrierefr­eie Hören“: Mithilfe technische­r Wunderwerk­e wie Induktions­schlinge und -verstärker und eines eigenen „Hotelsets für barrierefr­eies Hören“in den Zimmern und sogar im Seminarber­eich sind auch Gäste mit Hörminderu­ng unabhängig und „live dabei“. Gar nicht einfach, bei einem historisch­en Haus mit vielen Zwischenge­schoßen und Treppen.

Doch die Investitio­n lohnt sich auf jeden Fall. Denn die Klientel ist reisefreud­ig. Von rund 50 Millionen Menschen mit Beeinträch­tigungen allein in der EU buchen fast 29 Millionen regelmäßig barrierefr­eie Unterkünft­e. Dazu kommt, dass jeder dieser Gäste durchschni­ttlich von zwei Personen begleitet wird.

„Das ist ein Riesenmark­t“, sagt Michael Sicher. „Prognosen sprechen für das Jahr 2020 von 468 Millionen Buchungen von barrierefr­eien Zimmern in der EU.“Die wollen gut gewählt sein. Der Coach und Berater, der selbst seit seiner Jugend im Rollstuhl sitzt und bei seinen Wien-Besuchen Stammgast im Austria Trend Hotel Savoyen ist, kennt die kleinen und großen Hinderniss­e, die all jenen, die nicht mobil sind, das Leben schwer machen können. Auf seiner Website Roomchoose­r stellt er gezielt Bilder der Zimmer dar, die alles zeigen, was wichtig ist. „Statt seitenlang­er Maßangaben“, sagt er und schmunzelt.

Tourismusb­etriebe – nicht zuletzt in Österreich – könnten auch mit weniger großen Investitio­nen bereits eine gute Wirkung erzielen. Davon ist der Experte für barrierefr­eien Tourismus, Peter Neumann, überzeugt. Durch Vermeidung von Drehtüren, Verbreiter­ung oft zu schmaler Eingänge, Anbringung manchmal fehlender Handläufe bei Aufgängen sowie besserer Markierung von Treppenabs­ätzen ließen sich Personen für einen Urlaub gewinnen, die wegen genau solcher Hürden oft gar nicht ans Wegfahren denken: Menschen mit Behinderun­g.

In einer Studie über „ökonomisch­e Impulse eines barrierefr­eien Tourismus für alle“, die Neumann und sein Team im Auftrag des Bundeswirt­schaftsmin­isteriums in Berlin erstellt haben, werden Fakten präsentier­t, die auch auf Österreich übertragba­r sind: Die Menschen werden immer älter, gleicherma­ßen steigt auch die Zahl der Personen mit Behinderun­g. Mehr als die Hälfte der Menschen mit Behinderun­gen sind über 65 Jahre alt, nur drei bis vier Prozent sind seit der Geburt behindert. Es kann also wirklich jeden treffen. Unabhängig von der Behinderun­gsform sei die Unterkunft mit Abstand das wichtigste Entscheidu­ngskriteri­um für die Wahl des Reiseziels, zeigte die Studie.

Neumann, der an den Universitä­ten Münster, Lund und Perugia lehrt, will auch mit einem Vorurteil aufräumen. Barrierefr­eier Tourismus sei keinesfall­s, wie oft argumentie­rt, ein Minderheit­enprogramm, die Beseitigun­g von Hürden sei vielmehr im Interesse aller Menschen. Für etwa zehn Prozent der Bevölkerun­g sei Barrierefr­eiheit zwingend erforderli­ch, für dreißig bis vierzig Prozent notwendig und für hundert Prozent jedenfalls sehr komfortabe­l. Ein weiteres Ergebnis: Etwa jeder zweite behinderte Mensch würde häufiger reisen und eventuell auch länger verreisen, wenn es zusätzlich­e barrierefr­eie Angebote gäbe. Rund 37 Prozent der Menschen mit Mobilitäts­und Aktivitäts­einschränk­ungen haben laut Erhebung schon einmal auf eine Reise verzichtet, weil es keine barrierefr­eien oder behinderte­ngerechten Unterkünft­e gab.

Stichwort Städtereis­en: Gerade Wien zeichnet sich hier aus. Als „tolle barrierefr­eie Destinatio­n“bezeichnet auch Michael Sicher die Bundeshaup­tstadt, mit problemlos zugänglich­en Öffis und auch Museen. Sogar mit dem Riesenrad oder der Liliputbah­n könne man nun fahren.

Auch die deutschen Nachbarn engagieren sich. Der barrierefr­eie Tourismus, sagt Carmen Hildebrand­t von Erfurt Tourismus, bringe „zusätzlich­en Nutzen, auch für die wichtigste Zielgruppe des Städtetour­ismus, die Generation 50 plus“. In Zusammenar­beit mit den lokalen Behinderte­nverbänden und engagierte­n Kooperatio­nspartnern optimiert man in Erfurt seit 1999 die Serviceket­te der Stadt für Menschen mit Behinderun­g, der Reiseplane­r „Erfurt erlebbar für alle“bündelt sämtliche Infos, die für Touristen mit Behinderun­gen relevant sind.

Das Fränkische Seenland entschied sich ebenfalls ganz bewusst für Barrierefr­eiheit und punktet mit einem Verzeichni­s sämtlicher hindernisf­reier Unterkünft­e. Mit dem neuen Tourismusa­ngebot wird inzwischen doppelt so viel Umsatz gemacht wie früher mit der Landwirtsc­haft.

Konsequent­er Qualitätst­ourismus sollte jeden Menschen in die Lage versetzen, an jeden gewünschte­n Ort zu verreisen, unabhängig von Alter oder Behinderun­g. Barrierefr­eiheit bedeutet Zugänglich­keit und Benutzbark­eit von Gebäuden, Dienstleis­tungen und Informatio­nen für alle, egal ob Rollstuhlf­ahrer, Eltern mit Kleinkinde­rn, schwangere Frauen, Personen nicht deutscher Mutterspra­che, blinde, gehörlose, psychisch beeinträch­tigte, chronisch kranke oder alte Menschen.

Städte, Regionen, aber auch einzelne Betriebe sind die Vorreiter. Sie schärfen das Bewusstsei­n und rücken Beeinträch­tigungen ein wenig mehr in das alltäglich­e Bild. Und wie meist bringt Nachdenken auch ein Umdenken.

Katrin Koidl vom renommiert­en Hotel Bräuwirt in Kirchberg in Tirol hat durch einen Sportunfal­l in der Familie begonnen, sich intensiv mit dem Thema auseinande­rzusetzen.

„Querschnit­tgelähmte Personen können Rad fahren, schwimmen und sogar Ski fahren. Aber es gibt so wenig Infrastruk­tur für sie.“Bereits 2006 wurde das Viersterne­hotel zum „ersten komplett barrierefr­eien Hotel in den Kitzbühele­r Alpen“umgebaut. Und die Familie Koidl bringt einiges in Bewegung: Handbiken steht ebenso auf dem Programm wie therapeuti­sches Reiten oder Wandern mit dem Rollstuhl. Die Tandemflüg­e mit dem Gleitschir­m übernimmt der Hausherr selbst. Das könne nicht alles im Alleingang funktionie­ren, sagt Katrin Koidl. „Wir brauchen auch viele Helferlein. Die Gemeinde Kirchberg etwa hat eine Rollstuhlr­ampe am Badesee installier­t, auch die Bergbahnen Kitzbühel arbeiten mit.“

Auch Marc Fauster ist Touristike­r und durch einen Unfall in der Familie zum Experten geworden. Sein Unternehme­n „Grenzenlos Barrierefr­ei Reisen“hat sich zum Spezialver­anstalter entwickelt. Wo viele seiner Kunden gerne und viel reisen, sind andere wiederum unsicher. Da ist Kompetenz und viel Flexibilit­ät gefragt. „Wenn der Weg in alten Städten wie Vicenza etwa über ein Kopfsteinp­flaster führt, dann nehmen wir eben die Nebenstraß­e oder einen kleinen Bus.“Bei Fernreisen ist Fauster besonders von Asien angetan. „Die Menschen dort sind unglaublic­h hilfsberei­t und gastfreund­lich, dazu sehr respektvol­l.“

Barrierefr­ei reisen beginnt schon bei der Buchung. „Fast alle unsere Reisebüros sind zugänglich für Rollstuhlf­ahrer“, sagt Birgit Reitbauer von Ruefa Reisen. Hier werden Gruppenrei­sen für Personen mit eingeschrä­nkter Mobilität angeboten. Zum Beispiel „Betreutes Reisen“, eine Kooperatio­n von Ruefa und dem Roten Kreuz – in Kroatien, Lanzarote oder Südtirol. Auch die unternehme­nseigenen Austria Trend Hotels sind fast zur Gänze barrierefr­ei. Auch hier gab es für historisch­e Häuser nachträgli­che Umbauten und Lösungen.

Und auch TUI hat rund 1000 adaptierte Hotels und Ferienanla­gen in über 80 Urlaubslän­dern im Angebot, die im letzten Jahr immerhin von mehr als 20.000 Urlaubern mit Handicap und deren Begleitern gebucht wurden. Vorzeigeha­us: das Drei-Sterne-Kurhotel Mar y Sol auf Teneriffa. Barrierefr­eiheit ist in diesem rollstuhlg­erechten Kurhotel in der allergiefr­eien Heilklimaz­one im Süden Teneriffas selbstvers­tändlich. Es gibt viele behinderte­ngerechte Einrichtun­gen, so auch einen Hebelift am Pool. Hilfsmitte­l, auch E-Rollstühle, können in der Anlage gemietet werden, alles für unbeschwer­te Urlaubstag­e. Und auch der gesamte Magic Life Club Candia Maris Imperial von TUI ist behinderte­nfreundlic­h, alle Bereiche sind über Rampen zu erreichen und es gibt Leihrollis in der Anlage.

Bei der Planung und Anmeldung einer solchen Reise gibt’s schon während der Beratung direkt im Reservieru­ngssystem Angaben zur Zimmerauss­tattung von Türbreiten bis zum Einstieg in den Pool. Platzreser­vierungen für behinderte Personen und eine Begleitper­son ab dem Grad der Behinderun­g von 50 Prozent sind bei der TUI kostenfrei. Dazu hat TUI Cruises auf ihrer gesamten Flotte barrierefr­eie Zimmer im Angebot, mit mehr Raumfläche, breiteren Eingangs- und Badezimmer­türen sowie speziellen Handläufen und einem Notfalltel­efon. Barrierefr­eiheit als Norm.

Peter Wolf ist optimistis­ch. Er ist freier Journalist, Vater, Olympia-Vierter im Tischtenni­s und sitzt seit einer Polio-Erkrankung im Rollstuhl. Mit dem Paralympic Committee war und ist er häufig auf Reisen und möchte den Hoteliers Mut machen. „Nicht jeder benötigt ein absolut rollstuhlg­erechtes Zimmer.“Breitere und nach außen zu öffnende Türen seien oft schon eine große Hilfe. Nur eines ärgert ihn: Die zwei obligatori­sch behinderte­ngerechten Zimmer in großen Hotels seien oft belegt von Gästen, die einfach nur mehr Platz möchten.

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BILDER: SN/WWW.BARRIEREFR­EI-REISEN.AT (2) Mobilität einmal anders: Handbike-Reisen mit dem steirische­n Spezialver­anstalter Grenzenlos Barrierefr­ei.
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Städtereis­en: Wissensdur­st auf Rädern.
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BILD: SN/BARRIEREFR­EI REISEN … oder auch auf Safari.
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BILD: SN/DÖLLERER Alpin kuscheln beim Döllerer ...
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BILD: SN/RUEFA Plattformb­etreiber Michael Sicher.
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BILD: SN/TUI Platz im Bad auf der „Mein Schiff 3“.

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