Salzburger Nachrichten

EU wird Finanzhilf­en für die Türkei drosseln

EU-Kommissar Johannes Hahn war in Armenien und Libyen und reist demnächst nach Weißrussla­nd. Allerdings: Konkrete Beschlüsse zeichnen sich nur für die Türkei ab.

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Johannes Hahn verweigert, offiziell für den Ausstieg aus den Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei zu plädieren. Nach wie vor habe die EU großes Interesse an der Türkei, versichert der EU-Kommissar für Erweiterun­gsund Nachbarsch­aftspoliti­k. Und doch stellt er klar: Die Verhandlun­gen sind eingefrore­n. Es werden also weiterhin keine Kapitel mehr eröffnet. Auch am Geldhahn wird gedreht. SN: Sie kommen aus Libyen. Wie lange waren Sie dort? Johannes Hahn: Aus Sicherheit­sgründen konnte ich nur fünf oder sechs Stunden bleiben, man fliegt hinein und hinaus. Dort übernachte­t niemand, nur der italienisc­he Botschafte­r residiert in Tripolis. Alle anderen Botschafte­r, auch jene der EU, sitzen in Tunis. Als wir mit dem Flugzeug wieder abhoben, gab es beim Flughafen wieder eine Schießerei zweier Milizverbä­nde. SN: Was konnten Sie in Tripolis erreichen? Wir haben den Regierungs­chef, den Gouverneur der Zentralban­k, einige Minister und Bürgermeis­ter getroffen – vor allem, um zu signalisie­ren, dass für uns Libyen nicht nur wegen der Migration relevant ist, sondern dass wir helfen wollen, das Land zu konsolidie­ren. Die EU unterstütz­t dabei die Bemühungen der Vereinten Nationen und ihres Sonderbeau­ftragten, des Libanesen Ghassan Salamé, möglichst zügig Institutio­nen aufzubauen und die Verfassung zu adaptieren, um Wahlen durchzufüh­ren. Das Staatspräs­idium soll von neun auf drei Mitglieder reduziert werden, Präsidium und Regierung sollen getrennt werden. Zudem verfolgt die EU zwei weitere Ansätze: Erstens wollen wir lokale Strukturen unterstütz­en, um die Grundverso­rgung zu sichern – also für Wasser, Elektrizit­ät, Gesundheit, Müllentsor­gung sowie Schulen. Zweitens möchten wir Kleinund Mittelbetr­ieben den Zugang zu Krediten und Finanzdien­stleistung­en erleichter­n. SN: Der EU-Gipfel am 19. und am 20. Oktober hat das Thema Migration auf der Tagesordnu­ng. Inwiefern ist Ihre Libyen-Reise dafür relevant? Bei meinem Libyen-Besuch stand nicht die kurzfristi­ge Migrations­politik im Mittelpunk­t. Freilich sind Küstenwach­e und Bekämpfung der Schleppere­i wichtig. Doch diesmal ging es um mittel- und langfristi­ge Maßnahmen zur Stabilisie­rung der Nachbarsch­aft. Im Gegensatz zu den Nachbarlän­dern ist Libyen ein prinzipiel­l reiches Land, und relativ dünn besiedelt. Wenn die staatliche­n Strukturen wieder hergestell­t wären, könnte es vieles aus eigener Kraft aufbauen und sogar tunesische Gastarbeit­er aufnehmen. SN: Libyen ist aber Herkunftsl­and der meisten Flüchtling­e, die nach Europa wollen. Ja, derzeit kommen von dort über 90 Prozent. Allerdings wird übersehen, dass Libyen drei Mal so viele Binnenflüc­htlinge als Migranten aus anderen Ländern hat: Rund eine Million Libyer hält sich woanders auf, als sie eigentlich wohnen. Daran erkennt man, wie fragil dieses Land ist. Kurzfristi­g brauchen wir eine Stärkung der Küstenwach­e. Langfristi­g werden wir aber nur etwas erreichen, wenn es funktionie­rende staatliche libysche Autoritäte­n gibt, die beim Grenzschut­z mitwirken. SN: Zu Katalonien: Wie reagieren Sie als Erweiterun­gskommissa­r, sollte Ihnen die katalanisc­he Regierung einen Beitrittsa­ntrag schicken? Erstens ist das eine innerstaat­liche spanische Angelegenh­eit. Zweitens müssen die Katalanen rechtsstaa­tliche Prinzipien einhalten, also auch die spanische Verfassung. Wir appelliere­n an sie, nicht eine Eskalation der Gewalt zu riskieren, sondern auf Basis des Dialogs zu einer Lösung zu kommen. SN: Sind die EU-Institutio­nen in diesem Konflikt machtlos? Oder ratlos? Wir sind nicht zuständig. Wir kön- nen uns nicht zu etwas äußern, wo wir keine Zuständigk­eit haben. SN: Beim nächsten EU-Gipfel wird auch die Türkei ein Thema. Was zeichnet sich ab? Ich erwarte, dass die Beschlussl­age der Außenminis­ter vom Dezember 2016 bestätigt wird. Das heißt: Es werden aufgrund der ernsten Lage in der Türkei keine weiteren Beitrittsk­apitel eröffnet. Der Prozess steht damit still. Weiters könnte beschlosse­n werden, die Vorbeitrit­tshilfe dem Stand der Verhandlun­gen anzupassen, also sehr drastisch zu reduzieren. SN: Also deutlich weniger als die für die Jahre 2014 bis 2020 bisher an Vorbeitrit­tshilfe budgetiert­en 4,4 Mrd. Euro? Ja. Allerdings ist zu beachten, dass begonnene, vertraglic­h vereinbart­e Mehr-Jahres-Projekte für Infrastruk­tur, von denen auch wir profitiere­n, zu Ende geführt werden. Zudem haben wir Interesse an einer rechtsstaa­tlichen Entwicklun­g des Landes. Es spricht nichts dagegen, alle Einrichtun­gen weiter zu unterstütz­en, die das befördern. SN: Präsident Erdoğan sagte Anfang Oktober, die Türkei brauche die EU-Mitgliedsc­haft nicht mehr. Sind damit die Beitrittsv­erhandlung­en beendet? Das ist pure Rhetorik. Wir Europäer sind interessie­rt, das Thema zu deeskalier­en. Ob wir die Türkei mögen oder nicht: Aufgrund ihrer geografisc­hen Lage, ihrer Einwohnerz­ahl und ihrer geostrateg­ischen Bedeutung müssen wir Interesse an ihrer wirtschaft­lichen und politische­n Stabilisie­rung haben. Daher muss man die eingefrore­nen Beitrittsg­espräche von anderen Ebenen der Zusammenar­beit unterschei­den (wie auch die gesonderte­n Flüchtling­svereinbar­ungen, Anm.). Und auch ohne Beitrittsv­erhandlung­en hatten wir im Juli einen politische­n Dialog mit der Türkei, demnächst wird es einen zu Verkehr und einen weiteren zu Wirtschaft geben. Da allerdings die Türken den – von ihnen selbst gewünschte­n – Kandidaten­status haben, müssen sie akzeptiere­n, dass wir jede Entwicklun­g an höchsten demokratis­chen Standards und an den Spielregel­n der EU messen. SN: Sie wollen also die Beziehunge­n zur Türkei nicht kappen? Das will niemand! Sogar die Österreich­er haben gefordert, zwar die Beitrittsg­espräche offiziell zu beenden, aber andere Formen der Zusammenar­beit zu finden. Die meisten Mitgliedsl­änder hingegen bevorzugen, die Beitrittsg­espräche nur einzufrier­en. Die Türkei ist ja nicht Erdoğan, und man weiß nicht, wer und was nach Erdoğan kommen wird. SN: Sie waren soeben in Armenien, Tunesien und Libyen und sind jetzt in Marseille beim Symposium „Europa neu denken“. Wohin führt Ihre nächste Reise? Nach Weißrussla­nd – aus demselben Grund wie nach Armenien. Wir haben Ende November in Brüssel das alle zwei Jahre stattfinde­nde Gipfeltref­fen östlicher EU-Nachbarn – mit Georgien, Armenien, Aserbaidsc­han, Moldawien, Ukraine und Weißrussla­nd. Zur Vorbereitu­ng fahre ich in jedes der Länder. Zudem geht es im Oktober nach Ägypten. SN: Mit welchem Anliegen? Primär geht es um Nachbarsch­aftspoliti­k. Vordringli­ches Thema wird das seit dem „arabischen Frühling“drastisch zunehmende Bevölkerun­gswachstum sein: Ägyptens Einwohnerz­ahl nimmt derzeit pro Tag um 7000 zu – das ergibt zwei Millionen mehr Ägypter pro Jahr. Ich versuche, Ägypten bei der Bewältigun­g der damit einhergehe­nden Problemen zu unterstütz­en.

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BILD: SN/APA/EPA/OLIVIER HOSLET EU-Kommissar Johannes Hahn will Kanäle offenhalte­n.

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