Europa scheitert schon am Grüßen
Die Einheit der Europäer ist unerreichbar, weil viele Wörter in den vielen Sprachen nicht genau übersetzbar sind. Doch Unübersetzbarkeit kann auch von Vorteil sein.
Die Franzosen sagen wortgenau übersetzt „Guten Tag“, während viele Österreicher „Grüß Gott“rufen. Die Spanier sagen zwar ähnlich wie die Briten so etwas wie „Hallo“, setzen aber ein umgedrehtes Rufzeichen davor. Wiederum andere, nämlich viele, wenngleich nicht einmal alle Italiener, verwenden mit „ciao“eine Verballhornung von „sciavo“für „Diener“– einem Verwandten des „Servus“. Bloß die verschiedenen Bedeutungen jener Wörter, die Europäer fürs Begrüßen verwenden, zeigen die unübersehbare Vielfalt an Begriffen für dieselbe kleine alltägliche Zuwendung.
Schon das Grüßen zeige die Schwierigkeit des Übersetzens, stellt die französische Philosophin Barbara Cassin fest. Sie hat das Schwierige nicht gescheut. Vielmehr hat sie sich Umberto Ecos Diktum „Die Sprache Europas ist die Übersetzung“zu Herzen genommen und sich auf die Suche nach dem Unübersetzbaren gemacht. Da fand sie zum Beispiel im Englischen „liberty“und „freedom“, wofür das Deutsche nur ein einziges Wort kennt, nämlich „Freiheit“. Sie fand das slawische „prawda“oder „pravda“, das „Wahrheit“wie „Gerechtigkeit“bedeutet. Wie kann das das Gleiche sein? Sie wurde derart fündig, dass sie seit Jahren am dicken „Wörterbuch des Unübersetzbaren“arbeitet – mittlerweile mit einem Team von Philosophen, Anthroposophen sowie Literatur- und Religionswissenschaftern.
Davon hat sie am Samstag in Marseille bei „Europa neu denken“berichtet. Dieses Symposium hat EU-Kommissar Johannes Hahn mit dem Salzburger Universitätsprofessor Michael Fischer begründet und führt es auch seit dessen Tod mit dem Ziel fort, die europäische Einigung abseits der Tagespolitik und insbesondere mit Hinblick auf Kunst, Kultur und Geisteswissenschaft zu bedenken. Heuer hat „Europa neu denken“zum sechsten Mal stattgefunden.
Die sich manchmal bis zur Unmöglichkeit auswachsende Schwierigkeit des Übersetzens bedinge drei Gefahren für Europa, warnt Cassin. Das erste Problem sei ein sprachlicher Nationalismus, also das Verharren in vermeintlicher Sicherheit der Muttersprache. Das zweite sei der Übergang zum „Globish“, also zu einem simplifizierten Englisch. Damit könne man zwar überall Kaffee bestellen, doch substanzielle Gespräche würden unmöglich. Ein Europäer sollte folglich das Wort „Sprache“immer im Plural denken. Ein drittes Problem in Europa sei die aufkommende Hierarchie von Sprachen und folglich Kulturen.
Allerdings eröffnet die Unübersetzbarkeit auch Vorteile: Sie bedinge, dass man mit Unterschieden umzugehen lerne, sagt Cassin. Unübersetzbares führe dazu, dass sich Menschen unaufhörlich mit dem anderen und dem zunächst fremd Erscheinenden auseinanderzusetzen hätten. Eine Folge davon: „Die Zivilisation um das Mittelmeer ist über das Unübersetzbare entstanden.“Andere Folgen sind allerdings auch Unverständnis, Missverständnisse und Konflikte. Daher sei das Wahrnehmen von sprachlichen Differenzen wichtig, um Konflikte zu deeskalieren, rät die Philosophin.
Besonders zeigt sich die Not des Übersetzens an Heiligen Schriften der monotheistischen Religionen. Im Islam habe sich Gott im vom Propheten Mohammed aufgezeichneten Koran ausgedrückt, erläuterte Rachid Benzine, Islamologe aus Paris. Es handle sich um ein „Phänomen des übernatürlichen Diktats“.
Daher könne der Koran nicht in eine andere Sprache übersetzt, sondern nur inhaltlich wiedergegeben werden. Wer also nicht bloß eine Interpretation, sondern die Heilige Schrift des Islam lesen wolle, könne dies einzig auf Arabisch; nur in dieser Sprache habe sich Gott offenbart. Folglich gibt es vom Koran nur einen kleinen Bruchteil an Übersetzungen, als es von der christlichen Bibel gibt. Denn diese wird seit je in Übersetzungen gelesen. Kein anderes Buch der Welt ist so sprachelastisch – also so oft und in so viele Sprachen übersetzt worden – wie die Bibel.
Allein die Diskussion über das Vokabular oder die wörtlichen Attribute, die in den drei monotheistischen Religionen dem einen Gott zuerkannt werden, vom „Unnennbaren“und dem, „der keinen Namen braucht“bis zu „Vater“, „Gott“, „Deus“, „Kyrios“, „Jahwe“, „Elohim“, „Adonai“, „Allah“oder „Herr des Himmels“, hat deutlich gemacht, wie viel Nährstoff für Konflikte die unerbittlich fehleranfällige Verständigung infolge unübersetzbarer Wörter birgt.
Und doch: Theoretisch müsste das Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen nicht schwierig sein. Denn alle drei hätten mit dem Exodus – oder besser: mit der im 6. Jahrhundert aufgezeichneten Erinnerung an den Auszug eines Volkes in ein anderes Land – denselben Ausgangspunkt, erläuterte der Religionswissenschafter Jan Assmann in Marseille.
Alle drei Religionen haben die gleiche Grundstruktur: Sie basieren auf einer Offenbarung – den Israeliten ist sie am Sinai widerfahren, den Christen in Bethlehem und den Muslimen in Mekka und Medina. Alle hätten somit einen „radikal außerweltlichen Gott“, sagt Assmann. Auch hätten alle drei nicht Tempel, die einem Gott vorbehalten seien, sondern Moschee, Synagoge und Kirche seien Versammlungshäuser aller Gläubigen.
Wo allerdings das Christentum bisher am weitesten verbreitet gewesen ist, schwindet es: Seit dem 18. Jahrhundert verblasse in Europa das Zeitalter der Religion, stellt Assmann fest. „Europa verstand sich früher als ein Hort des Glaubens, umgeben von Heiden, die es zu missionieren galt. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt“, sagte der Religionswissenschafter. „Europa, wie es von außen, vom fundamentalistischen Islam und evangelikalen Christentum Amerikas gesehen wird, gilt als Hort von Säkularismus, Aufklärung und Unglauben.“
Was löst in Europa den Glauben an Gott ab? Assmann zufolge sei dies nicht Unglaube, sondern „ein neuer Glaube an den Menschen“, also an Menschenrechte, an Demokratie sowie zivilgesellschaftliche Freiheiten, Rechte und Pflichten.
Dazu ergänzte Helga Rabl-Stadler, Präsidentin der Salzburger Festspiele: Wenn Assmann ein neues Zeitalter des Glaubens an den Menschen konstatiere, „dann brauchen wir die Kunst besonders“. Denn die Kunst, und insbesondere die Musik, tauge als „Brücke zwischen Menschen und Völkern“. Und Künstler seien zwar nicht bessere Menschen, „aber sie sind Seismografen“.
„In ,Globish‘ kann man überall Kaffee bestellen.“ Barbara Cassin, Philosophin
„Die Sprache Europas ist die Übersetzung.“ Umberto Eco, Schriftsteller
„Im neuen Zeitalter brauchen wir die Kunst besonders.“ Helga Rabl-Stadler, FS-Präsidentin