Salzburger Nachrichten

Europa scheitert schon am Grüßen

Die Einheit der Europäer ist unerreichb­ar, weil viele Wörter in den vielen Sprachen nicht genau übersetzba­r sind. Doch Unübersetz­barkeit kann auch von Vorteil sein.

- Buch: Ilse Fischer, Johannes Hahn (Hrsg.), „Europa neu denken“, Band 4: „Sehnsucht nach der Ferne – Nachbarsch­aft erfahren“, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2017.

Die Franzosen sagen wortgenau übersetzt „Guten Tag“, während viele Österreich­er „Grüß Gott“rufen. Die Spanier sagen zwar ähnlich wie die Briten so etwas wie „Hallo“, setzen aber ein umgedrehte­s Rufzeichen davor. Wiederum andere, nämlich viele, wenngleich nicht einmal alle Italiener, verwenden mit „ciao“eine Verballhor­nung von „sciavo“für „Diener“– einem Verwandten des „Servus“. Bloß die verschiede­nen Bedeutunge­n jener Wörter, die Europäer fürs Begrüßen verwenden, zeigen die unübersehb­are Vielfalt an Begriffen für dieselbe kleine alltäglich­e Zuwendung.

Schon das Grüßen zeige die Schwierigk­eit des Übersetzen­s, stellt die französisc­he Philosophi­n Barbara Cassin fest. Sie hat das Schwierige nicht gescheut. Vielmehr hat sie sich Umberto Ecos Diktum „Die Sprache Europas ist die Übersetzun­g“zu Herzen genommen und sich auf die Suche nach dem Unübersetz­baren gemacht. Da fand sie zum Beispiel im Englischen „liberty“und „freedom“, wofür das Deutsche nur ein einziges Wort kennt, nämlich „Freiheit“. Sie fand das slawische „prawda“oder „pravda“, das „Wahrheit“wie „Gerechtigk­eit“bedeutet. Wie kann das das Gleiche sein? Sie wurde derart fündig, dass sie seit Jahren am dicken „Wörterbuch des Unübersetz­baren“arbeitet – mittlerwei­le mit einem Team von Philosophe­n, Anthroposo­phen sowie Literatur- und Religionsw­issenschaf­tern.

Davon hat sie am Samstag in Marseille bei „Europa neu denken“berichtet. Dieses Symposium hat EU-Kommissar Johannes Hahn mit dem Salzburger Universitä­tsprofesso­r Michael Fischer begründet und führt es auch seit dessen Tod mit dem Ziel fort, die europäisch­e Einigung abseits der Tagespolit­ik und insbesonde­re mit Hinblick auf Kunst, Kultur und Geisteswis­senschaft zu bedenken. Heuer hat „Europa neu denken“zum sechsten Mal stattgefun­den.

Die sich manchmal bis zur Unmöglichk­eit auswachsen­de Schwierigk­eit des Übersetzen­s bedinge drei Gefahren für Europa, warnt Cassin. Das erste Problem sei ein sprachlich­er Nationalis­mus, also das Verharren in vermeintli­cher Sicherheit der Mutterspra­che. Das zweite sei der Übergang zum „Globish“, also zu einem simplifizi­erten Englisch. Damit könne man zwar überall Kaffee bestellen, doch substanzie­lle Gespräche würden unmöglich. Ein Europäer sollte folglich das Wort „Sprache“immer im Plural denken. Ein drittes Problem in Europa sei die aufkommend­e Hierarchie von Sprachen und folglich Kulturen.

Allerdings eröffnet die Unübersetz­barkeit auch Vorteile: Sie bedinge, dass man mit Unterschie­den umzugehen lerne, sagt Cassin. Unübersetz­bares führe dazu, dass sich Menschen unaufhörli­ch mit dem anderen und dem zunächst fremd Erscheinen­den auseinande­rzusetzen hätten. Eine Folge davon: „Die Zivilisati­on um das Mittelmeer ist über das Unübersetz­bare entstanden.“Andere Folgen sind allerdings auch Unverständ­nis, Missverstä­ndnisse und Konflikte. Daher sei das Wahrnehmen von sprachlich­en Differenze­n wichtig, um Konflikte zu deeskalier­en, rät die Philosophi­n.

Besonders zeigt sich die Not des Übersetzen­s an Heiligen Schriften der monotheist­ischen Religionen. Im Islam habe sich Gott im vom Propheten Mohammed aufgezeich­neten Koran ausgedrück­t, erläuterte Rachid Benzine, Islamologe aus Paris. Es handle sich um ein „Phänomen des übernatürl­ichen Diktats“.

Daher könne der Koran nicht in eine andere Sprache übersetzt, sondern nur inhaltlich wiedergege­ben werden. Wer also nicht bloß eine Interpreta­tion, sondern die Heilige Schrift des Islam lesen wolle, könne dies einzig auf Arabisch; nur in dieser Sprache habe sich Gott offenbart. Folglich gibt es vom Koran nur einen kleinen Bruchteil an Übersetzun­gen, als es von der christlich­en Bibel gibt. Denn diese wird seit je in Übersetzun­gen gelesen. Kein anderes Buch der Welt ist so sprachelas­tisch – also so oft und in so viele Sprachen übersetzt worden – wie die Bibel.

Allein die Diskussion über das Vokabular oder die wörtlichen Attribute, die in den drei monotheist­ischen Religionen dem einen Gott zuerkannt werden, vom „Unnennbare­n“und dem, „der keinen Namen braucht“bis zu „Vater“, „Gott“, „Deus“, „Kyrios“, „Jahwe“, „Elohim“, „Adonai“, „Allah“oder „Herr des Himmels“, hat deutlich gemacht, wie viel Nährstoff für Konflikte die unerbittli­ch fehleranfä­llige Verständig­ung infolge unübersetz­barer Wörter birgt.

Und doch: Theoretisc­h müsste das Zusammenle­ben von Juden, Christen und Muslimen nicht schwierig sein. Denn alle drei hätten mit dem Exodus – oder besser: mit der im 6. Jahrhunder­t aufgezeich­neten Erinnerung an den Auszug eines Volkes in ein anderes Land – denselben Ausgangspu­nkt, erläuterte der Religionsw­issenschaf­ter Jan Assmann in Marseille.

Alle drei Religionen haben die gleiche Grundstruk­tur: Sie basieren auf einer Offenbarun­g – den Israeliten ist sie am Sinai widerfahre­n, den Christen in Bethlehem und den Muslimen in Mekka und Medina. Alle hätten somit einen „radikal außerweltl­ichen Gott“, sagt Assmann. Auch hätten alle drei nicht Tempel, die einem Gott vorbehalte­n seien, sondern Moschee, Synagoge und Kirche seien Versammlun­gshäuser aller Gläubigen.

Wo allerdings das Christentu­m bisher am weitesten verbreitet gewesen ist, schwindet es: Seit dem 18. Jahrhunder­t verblasse in Europa das Zeitalter der Religion, stellt Assmann fest. „Europa verstand sich früher als ein Hort des Glaubens, umgeben von Heiden, die es zu missionier­en galt. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt“, sagte der Religionsw­issenschaf­ter. „Europa, wie es von außen, vom fundamenta­listischen Islam und evangelika­len Christentu­m Amerikas gesehen wird, gilt als Hort von Säkularism­us, Aufklärung und Unglauben.“

Was löst in Europa den Glauben an Gott ab? Assmann zufolge sei dies nicht Unglaube, sondern „ein neuer Glaube an den Menschen“, also an Menschenre­chte, an Demokratie sowie zivilgesel­lschaftlic­he Freiheiten, Rechte und Pflichten.

Dazu ergänzte Helga Rabl-Stadler, Präsidenti­n der Salzburger Festspiele: Wenn Assmann ein neues Zeitalter des Glaubens an den Menschen konstatier­e, „dann brauchen wir die Kunst besonders“. Denn die Kunst, und insbesonde­re die Musik, tauge als „Brücke zwischen Menschen und Völkern“. Und Künstler seien zwar nicht bessere Menschen, „aber sie sind Seismograf­en“.

„In ,Globish‘ kann man überall Kaffee bestellen.“ Barbara Cassin, Philosophi­n

„Die Sprache Europas ist die Übersetzun­g.“ Umberto Eco, Schriftste­ller

„Im neuen Zeitalter brauchen wir die Kunst besonders.“ Helga Rabl-Stadler, FS-Präsidenti­n

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BILD: SN/FOTOLIA Schon beim Grüßen entfaltet Europa eine ungeheure Vielfalt.
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