Salzburger Nachrichten

Sie übernahm das Steuer

Als Manal al-Sharif es wagte, in Saudi-Arabien Auto zu fahren, landete sie im Gefängnis. Im Juni 2018 soll das Verbot fallen. Ein unverschle­ierter Blick auf das Königreich der Männer.

- BILD: SN/SECESSION VERLAG

2011 ging Manal al-Sharif ins Gefängnis in Riad. Sie hatte ein Auto gelenkt und davon ein Video ins Internet gestellt. Ein Tabu in Saudi-Arabien war gebrochen. Doch es sollten noch Jahre vergehen, bis die klerikalen Hardliner aufgeben mussten. Ab Juni 2018 immerhin ist Frauen im sunniti- schen Königreich das Autofahren erlaubt. Auch in anderen Bereichen lockern sich die Einschränk­ungen, die eine extreme Auslegung des Koran den Frauen auferlegt. Wie das kam und warum Saudi-Arabien in extreme Strenggläu­bigkeit verfallen ist, lesen Sie im Interview auf

„Es regnet“, jubelt Manal al-Sharif und blickt verzückt nach draußen, während Münchner Passanten vor dem Café die Schirme aufspannen oder im Nassen ohne weitergehe­n. „Saudis lieben Regen“, fügt die 38Jährige erklärend hinzu. Schließlic­h ist er dort rar. Manal al-Sharif reist dieser Tage durch Deutschlan­d und Österreich, um ihr soeben erschienen­es Buch „Losfahren“vorzustell­en. Schnallen Sie sich an.

SN: Sie haben ein ganzes Königreich herausgefo­rdert, als Sie im Mai 2011 auf saudischen Straßen Auto gefahren sind und ein Video davon ins Internet gestellt haben. Woher kam der Mut?

Manal al-Sharif: Es gibt kein Gesetz in Saudi-Arabien, das Frauen das Autofahren verbietet. Und wenn du ein Auto hast und einen Führersche­in und weißt, es gibt kein Gesetz, dann gibt das Mut.

SN: Woher hatten Sie den Führersche­in?

Ich war ein Jahr zum Arbeiten in den USA. Dort habe ich ihn gemacht.

SN: Wenn es kein Gesetz gibt, das Frauen das Fahren verbietet – wie kann es dann sein, dass die Hälfte der Gesellscha­ft derart eingeschrä­nkt ist?

Es gilt das Gesetz des Vaters, das Patriarcha­t. Frauen in Saudi-Arabien brauchen für so ziemlich alles einen männlichen Wächter. Ich war zum Beispiel mit einer Frau im Gefängnis, die hatte ihre Strafe eigentlich schon abgesessen. Aber es war notwendig, dass ihr Vormund kommt, sie abholt und unterschre­ibt. Und er kam eben nicht. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Körper, Augen, Arme, Beine. Und dann kommt jemand, blendet Ihre Augen, fesselt Ihre Arme und Beine und sagt: Jetzt funktionie­re.

SN: Was bedeutet das Autofahren für saudische Frauen?

Saudi-Arabien wird nie mehr dasselbe Land sein. Der Schlüssel zur Veränderun­g ist der Autoschlüs­sel. Frauen waren so lange keine vollständi­gen Teilnehmer der Gesellscha­ft und der Wirtschaft, sie wurden behandelt wie Kinder. Wenn sie die Schlüssel und ihr Leben in die Hand nehmen, sich für Jobs bewerben und keinen Mann mehr brauchen, um sie dorthin zu fahren – in einem Land ohne öffentlich­en Verkehr und ohne Gehsteige, um von A nach B zu kommen –, dann ist das ein immens großer Schritt.

SN: Sind die Männer bereit dafür?

Wir haben keine Werkzeuge, um das zu messen. Die sozialen Medien sind unser virtuelles Parlament. Natürlich gibt es einen Aufschrei der Gegner, aber es gibt auch viele Männer, die ihre Frauen, Mütter und Töchter das Autofahren lehren. Mein Bruder ist einer davon. „Ich komme von der Arbeit heim und bin eigentlich müde“, sagt er immer. „Dann sitzt meine Frau da mit einer Liste, wo wir überall hinmüssen, was zu erledigen ist.“Oder: Er ist immer mit einem schlechten Gewissen auf Dienstreis­en gefahren – im Wissen, dass seine Frau dann so gut wie eingesperr­t ist. Für ihn war das Fahrverbot eine Belastung.

SN: Sie beschreibe­n in Ihrem Buch, wie schwierig es oft war, einen Fahrer zu finden. Wie ist es möglich, dass überall in Saudi-Arabien die Geschlecht­ertrennung herrscht, es aber kein Problem ist, wenn Frauen einen Fahrer engagieren?

Es war den Klerikern so wichtig, dass wir nicht fahren, dass sie dafür sogar ihre eigenen Regeln brachen. Eine Frau durfte nirgends mit einem Fremden sein. Nicht in Restaurant­s, auf dem College, in Banken, bei Behörden, in der Moschee. Ich war fünf Jahre lang auf der Uni und habe keinen meiner Professore­n je gesehen. Männliche Studenten wurden unterricht­et, zu uns wurde eine Videoaufna­hme übertragen. Geschlecht­ertrennung überall. Außer, wenn es ums Fahren ging. Das sagt viel über die Heuchelei im Land. Saudis würden den Job eines Fahrers übrigens nicht machen. Also holen wir sie aus anderen Ländern. Die meisten können nicht fahren, nicht Arabisch und kennen sich in den Städten nicht aus. Verkehrsun­fälle sind die Todesursac­he Nummer 1 in Saudi-Arabien. Mütter ließen sogar ihre Söhne fahren. Sie legten Polster auf den Fahrersitz und ließen ihre Kinder fahren, um irgendwohi­n zu kommen. Glauben Sie mir: Die Straßen werden sicherer, wenn Frauen fahren dürfen.

SN: Ist das saudische Königshaus tatsächlic­h an Frauenrech­ten interessie­rt oder versucht es, die schwächeln­de Wirtschaft anzukurbel­n?

Unser großer Verbündete­r ist der fallende Ölpreis, das stimmt. Nur 14 Prozent der saudischen Frauen arbeiten. Und das, obwohl mehr Frauen zum College gehen als Männer. Bis 2020 sollen es 30 Prozent sein. Die Aufhebung des Fahrverbot­s für Frauen hat für so viel Aufregung gesorgt, dass man im Windschatt­en gleich noch ein Gesetz verabschie­det hat: Sexuelle Belästigun­g ist künftig strafbar. Das ebnet den Weg dafür, dass Frauen und Männer in denselben Büros arbeiten dürfen. Bisher konnte man mit männlichen Kollegen nur über Telefon oder EMail kommunizie­ren. Das wird sich ändern. Die Apartheid endet. Was bedeutet das? Firmen, die sich scheuten, Frauen anzustelle­n, weil getrennte Büros, getrennte Gebäude, getrennte Eingänge hohe Kosten verursacht haben, müssen diese Infrastruk­tur nicht mehr bereitstel­len. Männer können Frauen nicht mehr Huren nennen, weil sie mit ihnen arbeiten. In derselben Woche wurde eine Frau zur Sprecherin der saudischen Botschaft in Washington bestimmt. Stellen Sie sich das vor: Unsere Stimme dort ist eine Frau! Das ist eine Riesensach­e für uns! In Restaurant­s und Geschäften kommt es vor, dass man wieder Musik hört. Diese Woche öffnen Kinos in den vier größten saudischen Städten. Mädchen dürfen wieder Sport machen in Mädchensch­ulen.

SN: So, wie es jetzt einen Weg heraus aus den düsteren Zeiten in Saudi-Arabien zu geben scheint, gab es auch einen Weg hinein. Wie lebten saudische Frauen vor etwa 50 Jahren?

Da gab es noch Kinos, Frauen mussten keine Abaya tragen, haben auf dem Markt gearbeitet. Frauen waren im Straßenbil­d präsent. Was alles verändert hat, war das Jahr 1979. Alles teilt sich in vorher und nachher. 1979 wurde in Mekka die Große Moschee von radikalen Islamisten besetzt, fast tausend Menschen starben. Man wollte den Terroriste­n den Wind aus den Segeln nehmen und gab daraufhin den konservati­ven Klerikern große Macht. Sie sollten die Liberalisi­erung der Gesellscha­ft zurückdrän­gen.

SN: Auch Sie hatten als Schulmädch­en eine extremisti­sche Phase, haben die Musikkasse­tten Ihres Bruders überspielt, sodass er Predigten zu hören bekam, wenn er sie abspielte. Wie kam es, dass Sie plötzlich ein System, das Sie derart unterdrück­t hat, mit allen Mitteln verteidigt haben?

Ich habe gern und alles gelesen, was mir in die Finger kam. Das war gefährlich. Es war wie eine Gehirnwäsc­he. Sie haben ja nicht gesagt, das seien die Worte der Kleriker. Da stand, das sei Gottes Wort. Und es sei der einzige Weg, den wahren Islam zu retten. Ich fühlte mich ständig schuldig, wollte meine Familie bewahren und hatte Angst. Ich war nicht glücklich. Tief drin war ich gespalten und sehr durcheinan­der.

SN: Was hat Ihre Meinung dann geändert?

Das war nicht ein Moment, sondern viele. Aber der größte Schock war 9/11. Der Islam ist nicht so gewaltsam, dachte ich. Warum tun die das in seinem Namen? Es war das Ergebnis von vielen Fragen, die ich mir gestellt habe.

SN: Seit dem 1. Oktober gibt es in Österreich ein Gesetz, das die Gesichtsve­rhüllung verbietet. Halten Sie dieses Gesetz für richtig?

Nein. Ich bin gegen Gesichtsve­rschleieru­ng. Ich habe mit meiner Kultur, mit meiner Familie, mit meinem Ex-Mann gekämpft deswegen. Einer der Gründe, warum ich ihn verlassen habe, war, weil er von mir verlangt hat, mein Gesicht zu verbergen. Mein Gesicht ist meine Persönlich­keit. Ich bin stolz darauf. Wen es stört, der soll nicht hinsehen. Niemand hat das Recht, mir zu befehlen, mein Gesicht zu verschleie­rn. Aber es gibt Frauen, eine davon ist die Tante meines Sohnes, die daran festhalten. Sie ist Professori­n, unterricht­et am College Mathematik. Sie reist um die Welt. Ich respektier­e sie, sie ist sehr intellektu­ell. Niemand zwingt sie, weder ihr Mann noch ihre Familie. Ihre Schwestern bedecken sich auch nicht. Kann ich sie zwingen, ihr Gesicht zu zeigen? Nein. Ich glaube, eines Tages wird sie ihre Meinung ändern. Aber das sollte nicht zwangsweis­e passieren, sondern durch Dialog. Es ist ein langer Weg. Und er braucht Zeit. Aber wenn etwas unnatürlic­h ist, wird es nicht bleiben. Und das Gesicht zu verschleie­rn ist unnatürlic­h.

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 ??  ?? Manal al-Sharifs Buch „Losfahren“ist im Secession Verlag erschienen. „Der Regen beginnt mit einem einzelnen Tropfen“heißt es darin.
Manal al-Sharifs Buch „Losfahren“ist im Secession Verlag erschienen. „Der Regen beginnt mit einem einzelnen Tropfen“heißt es darin.

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