Salzburger Nachrichten

Ich war John McEnroe

- WWW.SN.AT/FLIEHER

Manchmal reicht ein Wort. Ein Melodiefet­zen aus der offenen Tür einer Bar genügt. Ein Name, ein Schild, der Duft eines Parfüms, der Geruch einer frisch gemähten Wiese, der Geruch von Asphalt nach einem Sommergewi­tter oder einer trägt ein komisches Stirnband. Und schon fängt das Hirn an zu schwimmen in Fantasiest­römen, es gräbt in die Tiefe und plötzlich bin ich wieder John McEnroe mit diesem komischen Stirnband und der Stehfrisur (jüngere Leser werden an dieser Stelle gebeten, sich McEnroe bei YouTube anzusehen – sie werden sofort alles verstehen).

Ich stehe also in der Garagenein­fahrt mit dem Schläger des Familytenn­is-Sets aus dem Unimarkt und ich dresche den gelben Softball gegen das Garagentor. Forty-Thirty. Deuce. Advantage Mr. McEnore. Doppelfehl­er. Ich fluche. Ich beschimpfe einen Schiedsric­hter, der gar nicht da ist. Ich schlage mit dem Racket um mich gegen den Gartenzaun der Nachbarn. Das Garagentor ist Björn Borg, der jeden Ball mit der nordisch stoischen Ruhe zurückbrin­gt.

Wahrschein­lich ist es der rätselhaft­este und magischste Moment im Menschsein, wenn eine Sinnesempf­indung einen erneut überwältig­t. Da verlässt man wegen eines kleinen Anlasses, etwa mitten in dem Kinofilm „Borg/McEnroe“, plötzlich Raum und Zeit und man reist zurück in die Vergangenh­eit. Ohne Ahnung, wie die kleinsten Details des Frühers auftauchen, wie man sich an einzelne Pflasterst­eine erinnert und wie einem einfällt, dass genau über der Garagenein­fahrt alle paar Minuten ein Flugzeug seine Kondensstr­eifen zog. Und nun ist da das Bild, wo die beiden Stirnbandt­räger hinaustret­en zum finalen Duell auf den heiligen Rasen m Court von Wimbledon – und in dem Moment verschwind­et der Court und wird zur Garagenein­fahrt in der Vorstadt.

Hirnforsch­er pulvern seit Langem viel Hirnschmal­z in die Erforschun­g dieses Phänomens. Klar ist: Die psychische Mechanik des Erinnerns ist brutal komplex. Eingebunde­n und zusammenge­koppelt ist da quasi alles Menschlich­e: Emotion, Bewusstsei­n, Geist, Verstand, Poesie. Es der Augenblick, der das Verinnerli­chte zugänglich macht. In dem wir wir werden, denn wir sind gebaut aus Erinnerung.

Erinnerung macht uns zu dem, was wir sind. Ich bin McEnroe. Mit einem alten Freund habe ich dann über den Film geredet. Er sagte nebenbei, dass er sich ganz sicher daran erinnert, dass ich damals in der Garagenein­fahrt, die Wimbledon oder Flushing Meadows oder Roland Garros war, immer der Björn Borg sein wollte.

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Bernhard Flieher
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