Lebenskunst auf Ukrainisch
L’viv. Die Stadt im Westen der Ukraine hat sich vom k. u. k. Lemberg in eine moderne Studentenstadt mit historischem Flair verwandelt.
Es duftet nach Schokoladenganache und Kaffee. Paare wirbeln direkt vor mir zu Salsa-Klängen über den Asphalt – aus der Ferne höre ich, wie ein Straßenmusikant „Yesterday“anstimmt. Die alten Häuser, an denen schon der Kaiser vorbeigefahren sein muss, werfen ihren Schatten auf die belebten Gassen und Straßen. Über das Kopfsteinpflaster stöckeln Damen, jüngere und ältere; Schulklassen und Touristen ziehen an mir vorbei, ein Gewirr von Sprachen: Ich höre Russisch, Polnisch, Englisch, Deutsch – und natürlich auch Ukrainisch. Das geschäftige Treiben auf dem Marktplatz, dem Rathausplatz Lembergs, zu beobachten, ist jedes Mal ein ganz besonderes Erlebnis.
Wenn die Pflastersteine und die alten Gebäude sprechen könnten, würden sie vermutlich spannende Geschichten über die „Stadt des Löwen“erzählen. Geschichten von galizischen Fürsten und Polen, von Habsburgern und Sowjets, und schließlich von der Unabhängigkeit. L’viv, so heißt die Stadt in ihrer eigenen Sprache, auf Ukrainisch, hat bewegte 761 Jahre hinter sich, die sich an jeder Straßenecke, in jeder Gasse und in jedem Detail des Stadtbilds widerspiegeln.
Ein Bummel lohnt sich: So altehrwürdig und gediegen es auf den ersten Blick erscheint, so vielschichtig ist es doch. In den letzten zehn Jahren haben findige Geschäftsleute die alten Häuser mit neuem Leben erfüllt, doch ohne ihnen den Charme und die Patina zu nehmen. Und die Geschichte wird auch kulinarisch aufgearbeitet.
Ein besonderer Touristenmagnet ist das Lokal Krijivka, zu Deutsch „das Versteck“. Tatsächlich ist das Lokal mitten auf dem Rathausplatz gut verborgen – so wie ein Versteck des ukrainischen Widerstands gegen die Sowjets. Am Lokaleingang steht ein Wächter und verlangt nach dem Codewort. Wer die Stiegen hinabsteigt, findet sich in einer anderen Welt wieder: Gegessen wird von Metalltellern, an den Wänden hängen Helme und Plakate – die Kellner sind wie Widerstandskämpfer gekleidet. Die Küche ist bodenständig und gehaltvoll und vor allem den ganzen Tag über geöffnet.
Es geht weiter über den Rathausplatz und vorbei am Hotel George, das zur Jahrhundertwende vom berühmten Wiener Architektenduo Ferdinand Fellner und Hermann Helmer gebaut wurde. Vorbei an der alten Oper, unter der die Poltva fließt. Der Fluss, der in der Kaiserzeit zur Kanalisation verkam, war so stark verschmutzt, dass er von Kaiser Franz Joseph kurzerhand überbaut wurde. Die alten, hohen Bäume am Boulevard der Freiheit spenden Schatten – älteren Herren beim Schachspielen und Frischverliebten beim Spaziergang.
Mein Ziel ist jedoch ein anderes: Abseits vom Tourismus, den unzähligen Lokalen mit ihrer vielfältigen Küche und dem gehaltvollen, auch hier trendigen Craft Beer gibt es auch Orte in der Stadt, an denen es noch viel zu tun gibt und die den Touristen verborgen bleiben.
Ein solcher Ort ist eine Einrichtung des Roten Kreuzes, ganz in der Nähe der IvanFranko-Universität. Dort versieht Pani Nina seit 20 Jahren ihren Dienst. Ihre Klienten sind zwischen 90 und 99 Jahre alt, jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat kommen sie hierher, um einander zu treffen, sich auszutauschen und für ein paar Stunden der Einsamkeit zu entfliehen, die für sie alltäglich ist. Viele von ihnen haben Schreckliches erfahren und überlebt, ein Konzentrationslager, sowjetische Arbeitslager in Sibirien, und den Holodomor, die durch Stalins Maßnahmen verursachte und Millionen Opfer zählende Hungersnot von 1932 und 1933. „Für die Leute ist unser Zentrum sehr wichtig“, erzählt Pani Nina, „viele haben keine Familie, die sich um sie kümmert.“Viele können sich nicht einmal ihre Medikamente leisten. „Sie sind zu Hause ganz auf sich allein gestellt.“
L’viv hat viele Facetten: als prächtige Touristenhochburg mit Kulinarik, Kunst und zahlreichen Festivals. Als Kontrast dazu hat ein großer Teil der Bevölkerung wenig – besonders ältere Leute sind von der Armut betroffen. Pensionisten, die nicht arbeiten, gibt es kaum: Sei es, dass alte Frauen auf dem Markt Obst, Gemüse und Blumen verkaufen oder dass eine ehemalige Lehrerin jetzt im Museum arbeitet und Bücher lektoriert. Und dann gibt es noch L’viv, die Businessund Technologie-Hauptstadt der Ukraine: Gut ausgebildete junge Leute gehen in den IT-Sektor – nicht zuletzt, weil ihnen dort eine überdurchschnittlich gute Bezahlung winkt.
All dies gibt Stoff zum Nachdenken beim Flanieren durch die Straßen von L’viv. In den letzten Jahrzehnten hat sich vieles verändert. Besonders vor der Fußball-EM wurde renoviert und umgebaut. Und noch Weiteres wird sich verändern: Die jetzige Jugend – die Politiker, Ärzte, Lehrer von morgen – reist seit Kurzem ohne Visum. Die neue Reisefreudigkeit verspricht viele frische Impulse für das Land und die Stadt. Was bleiben wird, ist der Charme jener Stadt, die vom k. u. k. Lemberg zu L’viv wurde. Wie auch die unbeirrbare Lebensfreude der Ukrainer und ihre kleinen, engagierten Initiativen, wie jene von Pani Nina. Infos zur Stadt: