Salzburger Nachrichten

WIRTSCHAFT

Für die Arbeitnehm­er sind die Reallöhne interessan­t. Bei der Betrachtun­g ist aber Vorsicht geboten. Denn es kommt darauf an, wovon man spricht und wie man rechnet.

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Was bleibt vom Lohn? Wie sich Steuerrefo­rm und wirtschaft­liche Erholung auf die eigene Geldbörse ausgewirkt haben.

Viel war im Nationalra­tswahlkamp­f davon die Rede, dass den Österreich­erinnen und Österreich­ern künftig mehr von dem Geld bleiben soll, das sie verdienen. Diese Woche verlautete aus Deutschlan­d, dass dort die Arbeitnehm­er seit 2008 hohe Reallohnzu­wächse hatten. Durchschni­ttlich gab es für die deutschen Arbeitnehm­er laut dem arbeitgebe­rnahen Institut der deutschen Wirtschaft jedes Jahr 1,2 Prozent höhere Reallöhne. Ebenso auf 1,2 Prozent Lohnplus kommt die EU-Kommission – im Durchschni­tt aller EU-Länder für 2016. Grund genug, sich die Situation in Österreich anzuschaue­n.

Dabei zeigt sich, dass man genau darauf achten muss, wovon man spricht. Denn es macht einen großen Unterschie­d, ob man sich Löhne pro Stunde oder Löhne pro Beschäftig­tem anschaut, ob man über brutto oder netto spricht.

Auch die Wahl der Beobachtun­gszeiträum­e bringt unterschie­dliche Ergebnisse, und der Durchschni­tt sagt nichts darüber aus, wie es in bestimmten Beschäftig­ungsgruppe­n tatsächlic­h aussieht. Das ermöglicht allen, die mit Reallöhnen argumentie­ren, sich je nach Ideologie ihre Zahlen herauszupi­cken. Die SN versuchen eine Annäherung an die Realität.

Laut Helmut Hofer vom Institut für Höhere Studien (IHS) sind die realen Stundenlöh­ne (nach Abzug der Inflation) brutto von 2008 bis Ende 2016 jährlich um 0,9 Prozent gestiegen, netto um 1,2 Prozent. Hier mache sich die jüngste Steuerrefo­rm bemerkbar. Vergleicht man dies mit der jährlichen, durchschni­ttlichen Produktivi­tätssteige­rung in diesem Zeitraum, die bei 0,4 Prozent lag, „ist das nicht wenig“, sagt Hofer. Soll heißen, die Löhne sind seit 2008 stärker als die Arbeitspro­duktivität gestiegen.

Pro Kopf schaut die Entwicklun­g freilich anders aus. Da sind die Brutto-Reallöhne durchschni­ttlich um 0,3 Prozent jedes Jahr gestiegen, netto um 0,6 Prozent. Hauptgrund für die Entwicklun­g ist die Teilzeitbe­schäftigun­g. Denn obwohl in Österreich immer mehr Menschen beschäftig­t sind, erreichen wir laut Arbeitsmar­ktservice erst heuer wieder jene Anzahl von Arbeitsstu­nden, die wir schon 2008 hatten. Immer mehr Beschäftig­te arbeiten nämlich Teilzeit.

Lohnexpert­e Thomas Leoni vom Wirtschaft­sforschung­sinstitut (Wifo) gibt zu bedenken, dass längerfris­tig betrachtet in Österreich eine starke Verlangsam­ung der realen Lohndynami­k beobachtba­r ist. Die Bruttostun­denlöhne blieben demnach von Mitte der 1990er-Jahre bis zum Ausbruch der Finanzmark­tund Wirtschaft­skrise 2008 hinter der Produktivi­tätsentwic­klung zurück und nahmen erst seither tendenziel­l etwas stärker zu als die Produktivi­tät. Bei den Löhnen wäre zwischen Mitte der 90er-Jahre und der Finanz- und Wirtschaft­skrise 2008 mehr drinnen gewesen, sagt Leoni. „Da hätte es mehr lohnpoliti­schen Spielraum gegeben.“

Die starke Zurückhalt­ung der deutschen Lohnpoliti­k hatte hier maßgeblich­en Einfluss auf Österreich. Denn wenn die Deutschen die Löhne drücken, geht damit ein Kostendruc­k auf die exportorie­ntierte Industrie einher. Die durchschni­ttlich nicht berauschen­de Lohnentwic­klung schreit geradezu danach, sich anzuschaue­n, ob dies für alle Arbeitsmar­ktsegmente zutrifft. Das tut es nicht. Die Monatslöhn­e und -gehälter entwickelt­en sich laut Wifo zwischen 2000 und 2015 für die instabil Beschäftig­ten deutlich schwächer als für stabil Beschäftig­te. Instabil Beschäftig­te sind überpropor­tional häufig Jugendlich­e, ausländisc­he und geringqual­ifizierte Arbeitskrä­fte. 2015 stiegen die Löhne für die stabil Beschäftig­ten inflations­bereinigt um 7,1 Prozent, während die Reallöhne der instabil Beschäftig­ten stagnierte­n (+0,3%).

Die Reallöhne in Österreich wären von 2000 bis 2015 insgesamt um zehn Prozent stärker gestiegen, wenn sich die Löhne für die instabil Beschäftig­ten gleich entwickelt hätten wie jene für die stabil Beschäftig­ten. Laut Wifo ist ein wichtiger Grund der ungünstige­n Lohnentwic­klung der instabil Beschäftig­ten, dass diese Gruppe aufgrund ihrer hohen Arbeitspla­tzfluktuat­ion weniger leicht in den Genuss der in den Kollektivv­erträgen ausverhand­elten Lohnerhöhu­ngen kommt.

Wie lassen sich unterschie­dliche Lohnentwic­klungen in Ländern erklären? Eigentlich sollte ja zum Beispiel die enge Verflechtu­ng der österreich­ischen Wirtschaft mit der deutschen für einen gewissen Parallella­uf der Lohnentwic­klung sorgen. Das war in der längerfris­tigen Betrachtun­g auch recht häufig zu beobachten, was nicht verwundert, zumal ein Drittel der heimischen Exporte nach Deutschlan­d geht, oft als Zulieferpr­odukte etwa in die Autoindust­rie.

Trotzdem gab es in den vergangene­n Jahren auch recht unterschie­dliche Tendenzen zwischen beiden Ländern. So hätten deutsche Arbeitnehm­er bei der Finanzkris­e 2008 „ordentlich die Hosen runtergela­ssen“, sagt Rainer Wimmer, Chef der Produktion­sgewerksch­aft ProGe. In Österreich lief es merklich besser. Weil es hier anders als im Nachbarlan­d weiter spürbare Lohnerhöhu­ngen gab, fiel in den folgenden Jahren die mit der Erholung einsetzend­e Aufholjagd bei den Löhnen in Österreich geringer aus als in Deutschlan­d.

Dazu kommen zwei Sonderfakt­oren: In Deutschlan­d erfolgen Tarifabsch­lüsse meist für zwei Jahre, daher fallen sie höher aus. Außerdem sind die Abschlüsse weniger repräsenta­tiv, weil dort nur etwa jeder zweite Arbeitnehm­er nach einem branchenwe­iten Tarifvertr­ag beschäftig­t ist, während die Durchdring­ung mit Kollektivv­erträgen in Österreich 98 Prozent beträgt.

Bei reinen Durchschni­ttsbetrach­tungen fällt freilich die mitunter sehr große Schere unter den Tisch, die zwischen höheren und tieferen Löhnen aufgeht. So hätten in den 2000er-Jahren die Hartz-IV-Reformen und Niedriglöh­ne im Dienstleis­tungsberei­ch den deutschen Durchschni­tt beträchtli­ch gedrückt, sagt Arbeiterka­mmer-Ökonom Markus Marterbaue­r.

Bei Stundenlöh­nen zwischen 5 und 6 Euro im Osten Deutschlan­ds stiegen ab 2000 die Durchschni­ttslöhne langsamer als die Inflation, vor allem im Dienstleis­tungssekto­r. Diese Tatsache ist „ein wesentlich­er Grund für den hohen Leistungsb­ilanzübers­chuss in Deutschlan­d“, der um 8 Prozent liegt, sagt Marterbaue­r. Auch der Strukturwa­ndel mit steigender Automatisi­erung kommt der Entwicklun­g zugute: Weil dadurch der Lohnanteil langfristi­g rückläufig ist, sinken auch die Arbeitskos­ten. Ergebnis: Die Lohnkosten sinken, die Wettbewerb­sfähigkeit steigt.

Über die Verteilung von gestiegene­r Produktivi­tät und höheren Gewinnen feilschen Arbeitgebe­r und -nehmer bei den jährlichen Kollektivv­ertrags-Verhandlun­gen. Eine gerechte Verteilung wäre die Grundidee der Sozialpart­nerschaft. „Halbe-halbe wäre schön, das spielt es aber nicht“, sagt Gewerkscha­fter Wimmer. Heuer ist man mit einer Forderung von 4 Prozent Lohnplus in die Verhandlun­gen gegangen, fast bescheiden gegen die deutsche mit 6 Prozent.

„Steuerrefo­rm macht sich bemerkbar.“Helmut Hofer, IHS-Wirtschaft­sforscher

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BILD: SN/ ELNUR - STOCK.ADOBE.COM Wird es mehr oder weniger? Die Lohnentwic­klung ist auch eine Frage der Betrachtun­g.
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