Die andere Seite von Handel und Digitalisierung
Der internationale Handel bringt Branchen unter Druck, der Digitalisierung fallen Berufe zum Opfer. Die ungleiche Verteilung der Gewinne und Abstiegsängste fordern die Politik heraus, sagt der Schweizer Ökonom David Dorn.
SN: Die Weltwirtschaft läuft gut, aber es gibt laute Kritik am internationalen Handel. Was läuft da falsch? David Dorn: Es gab in Wissenschaft und Politik lange Zeit die Ansicht, dass Freihandel fast ausschließlich Gewinner hervorbringt. Dieser Eindruck wurde durch klassische ökonomische Modelle verstärkt, die zwar immer berücksichtigten, dass Freihandel Einkommenseinbußen für Einzelne mit sich bringen kann. Aber gleichzeitig wurde angenommen, dass die Gewinner so viel gewinnen, dass es problemlos möglich sein sollte, die Verlierer zu entschädigen. Aus dieser theoretischen Möglichkeit hat man vorschnell den Schluss gezogen, dass Verluste im Handel auch in der Praxis kein Problem darstellen. SN: Das funktioniert aber nicht? Neue Forschung zeigt, dass im vergangenen Jahrzehnt tatsächlich erhebliche Verluste entstanden sind. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Struktur des Welthandels in den vergangenen drei Jahrzehnten fundamental verändert hat. Lange fand Handel fast ausschließlich zwischen westlichen Industrienationen statt. Ab den 1990er-Jahren traten durch den Zerfall des Kommunismus im Osten neue Länder in den internationalen Handel ein. Der größte Brocken war China, das sich vorher abgeschottet hatte und nun begann, die Welt zu beliefern. In der Folge kam es zu einem Konkurrenzdruck, bei dem China von geringen Lohnkosten profitierte, und das machte es binnen kürzester Zeit vielen Produzenten in konkurrenzierenden Industrien im Westen enorm schwer, zu bestehen. SN: Der IWF sagt, die Treiber des Wachstums – der Handel und die Technologie – bringen sehr vielen Menschen Vorteile, aber viele bleiben zurück. Teilen Sie diesen Befund? In der wirtschaftlichen Entwicklung ist es immer so, dass gewisse Branchen und Berufe an Bedeutung verlieren, das wird durch neue andere kompensiert. Dieser Prozess bringt in Summe mehr Wachstum und Wohlstand. Aber Menschen in schrumpfenden Bereichen haben Mühe beim Umstieg in wachsende Bereiche. Daher werden einfach mehr Leute arbeitslos. Das wurde lange zu wenig wahrgenommen. SN: Nach der Globalisierung kommt mit der Digitalisierung das vermeintlich nächste Problem auf uns zu. Es gibt große Sorge, dass das zu einem weiteren Schub an Verlusten von Jobs führt. Ist das so? Die Digitalisierung ist wie die geänderten Handelsstrukturen eine Verschiebung, die es nötig macht, dass sich Arbeitnehmer neu orientieren. Das hat schmerzhafte Anpassungsprozesse zur Folge. Was wir aus der Forschung wissen, ist, dass die Digitalisierung entgegen den Behauptungen nicht zu einem stetigen Arbeitsplatzverlust führt. Es entstehen immer wieder neue Jobs, obwohl wir seit Jahrhunderten immer mehr Produktionsschritte automatisieren. Der Effekt auf dem Arbeitsmarkt ist bei der Digitalisierung etwas schwächer als beim Handel. SN: Warum ist das so? Die Digitalisierung setzt am Beruf an, es sind oft einzelne Tätigkeiten, die automatisiert werden. Etwa Teile der Buchhaltung. Auch in der Produktion werden nicht mit einem Schlag alle Arbeitnehmer durch Roboter ersetzt, sondern in Schritten. Das erlaubt es Unternehmen, die Neuorganisation arbeitnehmerverträglich zu gestalten. Das ist im Handel anders, wo etwa die Schuhproduktion plötzlich einfach nicht mehr wettbewerbsfähig ist. SN: Wer sind Verlierer und Gewinner der Digitalisierung? Es ist mittlerweile für alle westlichen Länder belegt, dass die Berufe der mittleren Einkommensklassen zurückgehen. Die lassen sich verhältnismäßig leicht automatisieren. Wir sprechen von Produktionsarbeitern in der Industrie und Bürojobs. Weniger betroffen sind hoch qualifizierte Tätigkeiten, in denen Kreativität, Problemlösung, das Interagieren mit und das Führen von Menschen entscheidend sind. Auf der anderen Seite gibt es ganz einfache Arbeiten wie Reinigung, Altenpflege oder Kinderbetreuung – also Beschäftigungen, in denen eine Kombination von visueller Wahrnehmung und feinmotorischen Bewegungen nötig sind. Da sind Roboter Menschen deutlich unterlegen. Tatsächlich steigt die Beschäftigung im unteren und im oberen Segment. Und die Mitte ist rückläufig. SN: Im Gefolge von Globalisierung und Digitalisierung sinken die Arbeitseinkommen, jene aus Kapital steigen. Steigt dadurch die Ungleichheit? Wir haben die Tatsache, dass das Gesamteinkommen in Volkswirtschaften zunehmend dem Kapital zugutekommt und weniger den Erwerbstätigen, untersucht und große Mengen von Firmendaten durchleuchtet. Heraus kam ein erstaunliches Phänomen, nämlich, dass große Firmen in aller Regel einen geringeren Anteil des erzielten Gewinns an Arbeitnehmer ausschütten, als es kleinere Unternehmen tun. Und über die Zeit hinweg steigt der Marktanteil der Großunternehmen in vielen Wirtschaftsbereichen an. SN: Welche Folgen hat das? Diese Unternehmen sind deshalb nicht unbedingt schlechte Arbeitgeber. Die Jobs dort sind sogar besonders populär. Viele sind hoch profitabel, sie zahlen aber nicht unbedingt höhere Löhne, sondern es gibt mehr Geld für die Eigentümer. Bei Branchen, die von wenigen großen Konzernen dominiert werden, stellt sich ab einem gewissen Punkt die Frage, ob sie nicht den Wettbewerb behindern, obwohl sie durch Innovation in diese Position gekommen sind. Ein berühmtes Beispiel war Microsoft, das durch innovative Software an die Spitze kam, dann aber versuchte, Konkurrenten mit dem Internetbrowser zu blockieren. SN: Microsoft-Gründer Bill Gates hat eine Robotersteuer vorgeschlagen. In Österreich diskutiert man eine Wertschöpfungsabgabe, eine Steuer auf den Produktionsfaktor Kapital. Was halten Sie davon? Es liegt in der Natur eines Staates, dass man eine gewisse Umverteilung anstrebt. Die ständige Abwägung der Steuerpolitik ist, gleichzeitig Leistungsanreize zu setzen und eine faire Verteilung anzustreben. Ich bin skeptisch, was Vorschläge betrifft, die spezifisch Roboter besteuern möchten. Das erscheint mir schon von der Umsetzung her schwierig zu sein. SN: Aber soll Kapital stärker besteuert werden? Ein Argument gegen eine stärkere Besteuerung von Kapital ist, dass es sehr mobil ist und sich einer Besteuerung entziehen kann. Das ist gerade großen global agierenden Unternehmen relativ leicht möglich. Im Sinne einer fairen Besteuerung ist daher internationale Zusammenarbeit von großer Bedeutung. Es ist sicher ein Problem, die Besteuerung des Kapitals nur deshalb zu reduzieren, weil es ihm leichterfällt, sich zu entziehen. SN: Die mit der Digitalisierung einhergehende Gefahr sind also nicht massive Jobverluste, sondern die steigende Ungleichheit bei den Einkommen? Das große Problem ist die Kombination von drei Faktoren. Wir haben ein im historischen Vergleich niedriges Wirtschaftswachstum. Das so erwirtschaftete Gesamteinkommen kommt immer stärker dem Kapital und nicht den Arbeitnehmern zugute. Und der Teil, der an die Arbeitnehmer geht, ist immer ungleicher verteilt. Das bedeutet, es gibt immer größere Gruppen von Erwerbstätigen, deren Einkommen stagnieren oder gar sinken. Neu ist auch, dass es erstmals seit vielen Jahrzehnten eine Generation junger Menschen gibt, die möglicherweise weniger Erwerbseinkommen erzielen werden als ihre Eltern. Das hat man früher nie erlebt, weil das Wirtschaftswachstum so stark war, dass die nächste Generation deutlich wohlhabender war als die vorangehende. Jetzt gibt es in weiten Teilen der Bevölkerung das Gefühl eines wirtschaftlichen Abstiegs. Das macht den Menschen Sorgen, führt zu Unmut, der sich in der Unterstützung politischer Kräfte niederschlägt, die sich als Alternative zum bestehenden System präsentieren. SN: Ist die Politik machtlos? Die Politik hat es stets in der Hand, umzuverteilen. Sie kann temporär Handelsschranken errichten. Es ist für die Politik aber grundsätzlich schwierig, Wirtschaftswachstum zu schaffen oder die technologische Entwicklung zu beeinflussen. Das Problem ist, dass wir wenig Innovation haben, die wirklich neu ist und Wohlstand und Wirtschaftswachstum hervorbringt. Das ist die große Herausforderung für die Politik. David Dorn (38)