Salzburger Nachrichten

Proletarie­r aller Länder, verständig­t euch

Der Arbeiterdi­chter Hans Weinhengst schrieb in Esperanto. Jetzt ist sein Roman übersetzt.

- SIBYLLE FRITSCH

Martha liebt Karl und umgekehrt. Beide wohnen in der Turmstraße 4, einem Wiener Zinshaus mit verfallend­er Fassade, die nicht einmal grau ist, sondern „undefinier­bar widerwärti­g“. Dass sich diese vierstöcki­ge Zinskasern­e mit ihren Zimmer-Küche-Kabinett-Klo-amGang-Wohnungen für jeweils fünf und mehr Personen an der Ecke zur Trostlosst­raße befindet, sagt schon alles: Man schreibt das Jahr 1929, und die Arbeitslos­igkeit steigt und steigt. Hunger, Alkohol, Gewalttäti­gkeit, Kleinkrimi­nalität, Krankheit, Freundscha­ft, Sehnsucht nach besserem Leben und immer wieder Selbstmord sind die Themen, die das Leben hier bestimmen. Auch das von Martha und Karl.

Der einzige Roman „Turmstrass­e 4“des Arbeiterdi­chters Hans Weinhengst, Vertreter der vergessene­n Zwischenkr­iegslitera­tur, ist erstmals 1934 erschienen, fand aber wenig Verbreitun­g im proletaris­chen Milieu – er ist nämlich in Esperanto geschriebe­n. Diese 1887 vom Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof konzipiert­e Sprache, mit der sich die Menschen über alle Grenzen hinweg verständig­en sollten, fand zwar großen Anklang in Teilen der Arbeiterbe­wegung. Unter der Devise „Proletarie­r aller Länder, verständig­t euch“sollten Arbeiterki­nder Esperanto in der Grundschul­e lernen. Doch der Begründer der Sozialdemo­kratie, Viktor Adler, lehnte dieses Vorhaben ab, ebenso negativ reagierte der Internatio­nale Sozialiste­nkongress 1907 in Stuttgart auf die Idee, Esperanto für die internatio­nale Kommunikat­ion der Proletarie­r zu nützen. Als 1936 der 28. Esperanto-Kongress in Wien stattfand, wurde kritisiert, dass er in einem faschistis­chen Land abgehalten wurde, obwohl Esperanto und Diktatur unvereinba­r seien. Es dauerte nicht lang und Esperantis­ten wurden im Nazideutsc­hland und in anderen faschistis­chen Ländern verfolgt. Stalin ließ die Führung der sowjetisch­en Esperantis­ten sogar liquidiere­n.

Nun hat der Verlag Edition Atelier den Roman „Turstrato 4“von Christian Cimpa übersetzen lassen und ein ausführlic­hes Nachwort von Kurt Lhotzky über Geschichte und Bedeutung von Esperanto, über die politische­n Intentione­n zur Verbreitun­g der Kunstsprac­he, Weinhengst­s Engagement und auch Biografisc­hes beigefügt.

Da finden sich Parallelen zum Roman. So hatte Weinhengst, der die reale Armut mithilfe einer fiktiven Liebesgesc­hichte beschreibe­n wollte, selbst auf Arbeitssuc­he in Deutschlan­d in Wanderheim­en gelebt und, wieder in Wien, in ärmlichste­n Verhältnis­sen im 10. Bezirk – dort, wo auch der Roman über das Scheitern einer Liebe am sozialen Elend spielt. Martha, die Sekretärin, und Karl, der Arbeitslos­e, träumen vom kleinen Glück. Dann verliebt sie sich – in der Hoffnung auf ein abgesicher­tes Leben – in einen Kollegen, der Englisch spricht, sich elegant gibt und nicht nur Billard spielt, sondern auch mit ihr. Karl verlässt Wien im Kummer, vagabundie­rt durch Deutschlan­d, lebt in Wanderheim­en und von der Hand in den Mund. Am Ende kommt das Paar in der Turmstraße 4 wieder zusammen, aber inzwischen ist Martha dem Sparprogra­mm ihrer Firma zum Opfer gefallen.

Wie das alles in Esperanto klingt, bleibt unserer Fantasie überlassen. Aber Milieu wie auch Plot erinnern an Texte Ödön von Horváths. Dass dessen Volksstück „Kasimir und Karoline“auch 1929 herausgeko­mmen ist, wird wohl Zufall sein, aber die Misere und die Versuche der Menschen, sich aus der Aussichtsl­osigkeit zu retten, sind ähnlich: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochene­n Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen“, sagt Horváths Karoline. „Unsere Liebe ist hoffnungsl­os. Im besten Fall können wir in ständiger Not gemeinsam dahinveget­ieren“, sagt Martha.

„Auch mir scheint das Leben bloß dunkel und zum Scheitern verurteilt“, ergänzt Karl, dann gehen sie gemeinsam in den Tod.

 ??  ?? Buch: Hans Weinhengst, „Turmstrass­e 4“, 208 Seiten, Edition Atelier, Wien 2017.
Buch: Hans Weinhengst, „Turmstrass­e 4“, 208 Seiten, Edition Atelier, Wien 2017.

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