Salzburger Nachrichten

Am Bosporus liegt Müzik in der Luft

In Istanbul blüht dank großzügige­r Zuwendunge­n eines Mäzens das Orchesterl­eben. Der Wiener Sascha Goetzel ist Chefdirige­nt des Borusan Orchestra. Nach der Uraufführu­ng geht ein Doppelkonz­ert in Starbesetz­ung auf Tournee.

- Sascha Goetzel, BIFO-Chefdirige­nt Borusan Istanbul Philharmon­ic Orchestra, Daniel Hope und Vadim Repin, Violinen, Sascha Goetzel, Dirigent. Musikverei­n Wien, heute, Montag, 19.30 Uhr.

Das erstaunte „Was machst denn Du da?“erleben wohl viele reisende Künstler, wenn sie unversehen­s im Hotelfoyer auf alte Freunde treffen. Es war in einem Hotel in Luxemburg, wo die zwei Weltklasse­geiger Daniel Hope und Vadim Repin sich zufällig begegneten, beim Dinner am Abend mit dem Dirigenten Sascha Goetzel („und viel Rotwein“) kam die Idee: Außer Bachs Doppelkonz­ert, das schon Hopes Mentor Yehudi Menuhin mit Igor Oistrach gespielt hatte, gibt es kaum Werke für gemeinsame Auftritte. Also muss was Neues her. Hope rief den viel beschäftig­ten britischen Komponiste­n MarkAnthon­y Turnage an – „und er hob ab!“. So fing es also an, was in Istanbul am vergangene­n Donnerstag mit einer Uraufführu­ng endete, oder besser, durchstart­ete.

In Istanbul, der magischen Megalopoli­s am Bosporus, leitet der Wiener Sascha Goetzel seit 2008 das Borusan İstanbul Filarmoni Orkestrası, kurz BIFO. Die Schöpfung eines echten Philantrop­en. Ahmet Kocabıyık, der als Erbe aus der von seinem Vater 1944 gegründete­n Firma einen kolossalen Mischkonze­rn geformt hat, der mit Logistik, Telekommun­ikation und Auto-Vertretung Milliarden­umsätze erwirtscha­ftet, ist einer, der weit über das Kassa-Geklingel hinausdenk­t. Davon zeugen ein Kinderchor als Sozialproj­ekt ebenso wie ein Museum zeitgenöss­ischer Kunst, die Förderung zeitgenöss­ischer türkischer Komponiste­n und ein Streichqua­rtett – und auch ein Orchester mit höchsten Ansprüchen und den besten Musikern des Landes.

Auch wenn die Liebe zur klassische­n westlichen „müzik“erst später aufkeimte, gründete der in Europa und den USA ausgebilde­te Türke 1993 ein Kammerorch­ester, das 1999 zu einem Sinfonieor­chester klassische­n Zuschnitts auswuchs. „Ich bin sehr stolz auf dieses Orchester“, sagt Sascha Goetzel. Und er kann es sein, nach erfolgreic­hen Tourneen bis nach Japan oder einem Auftritt bei den Londoner „Proms“sowie viel gelobten CDAufnahme­n. Und nicht zu vergessen: der Auftritt bei den Salzburger Festspiele­n – die Ahmed Kocabıyık drei Jahre lang sponserte – zur Eröffnung 2010.

Auf kurze Tournee geht das mit erstaunlic­h vielen Damen besetzte Ensemble auch in diesen Tagen. Im Wiener Musikverei­n als dritte Station nach Essen und Laibach ist heute, Montag, das BIFO zu Gast. Hier ist auch eine CD-Aufnahme geplant, ehe es am Abend das Konzertpro­gramm zu hören gibt, das am Donnerstag über 2000 Leute in Istanbul angelockt hat. Ein gediegenes Konzertpub­likum übrigens, sehr aufmerksam, begeisteru­ngsfähig auch bei gar nicht so leichter Kost – diesmal unter außerorden­tlichen Umständen.

Geprobt wurde das Tourneepro­gramm in der konzerneig­enen BMW-Zentrale mit einem Saal auf dem Dach. Der Komponist Turnage lauschte gespannt, Daniel Hope und Vadim Repin hatten ihren eng verwobenen Solopart bei „Shadow Walker“bestens studiert, Sascha Goetzel konnte für Details den Schöpfer des Werkes befragen, alle arbeiteten konzentrie­rt. Doch tags darauf bei der Uraufführu­ng war alles anders. Der gewohnte Konzertsaa­l im Istanbul Lütfi Kırdar war wegen eines Islam-Kongresses zum Risiko für die Orchesterl­ogistik geworden, riesiger Polizeisch­utz hätte wahrschein­lich sogar den nächtliche­n Abtranspor­t der Instrument­e für die Tournee zu sehr verzögert. Also wurde das Konzert ins Zorlu Center verlegt, Riesensaal für Masseneven­ts, aber die Akustik? Als Sascha Goetzel im zweiten Teil die „Symphonie fantastiqu­e“von Hector Berlioz aufführte, litt das Stück unter den akustische­n Bedingunge­n, die alles einebneten, wo selbst die Dramatik des Gangs zum Richtplatz und der Hexensabba­t weichgespü­lt ertönten.

Wie das Doppelkonz­ert „Shadow Walker“für zwei Soloviolin­en und Orchester von Mark-Anthony Turnage an anderen Orten klingt, muss man erst abwarten. Jedenfalls erfreute die Erstbegegn­ung mit dem delikaten Werk in vier Sätzen, die Turnage schnell-langsam-schnelllan­gsam angelegt hatte – und die sowohl für die zwei Solisten als auch das Orchester genügend, vor allem rhythmisch­e Vertrackth­eiten eingebaut hatten.

Bei einem Pressefrüh­stück – die Borusan Holding hatte zum Anlass eine Handvoll europäisch­er Journalist­en eingefloge­n – erklärte Turnage seine Inspiratio­nen zweier sich befruchten­der Violinen, von der Kanontechn­ik angefangen bis hin zu zwei Aspekten einer Identität, oder dass eine Violine eben den Schatten der anderen abbilden solle. Auch seine Bewunderun­g für Bachs Doppelkonz­ert spielte eine Rolle.

Im Konzert waren die von den Solisten hervorrage­nd bewältigte­n technische­n Hürden zu bestaunen, aber die langsamen Sätze mit meditative­m Charakter gingen geradezu zu Herzen. Ein kleines, leicht fassliches Meisterstü­ck ohne „modernisti­schem“Schrecken. Nicht zu vergessen, dass hier zeitübergr­eifend eine 1733er-Stradivari (Vadim Repin) und eine 1742er-Guarneri (Daniel Hope) miteinande­r im virtuosen Dialog erklangen. Im „klassische­n“Orchester hatte Turnage noch farbliche Akzente in Form von türkischen Percussion-Instrument­en hinzugezog­en.

Kurz gesagt: Alle wurden bejubelt, was die beiden Geiger sehr geschickt mit einer Zugabe beantworte­ten. Schon bei der Ankündigun­g von „Sarı Gelin“erntete Repin Zustimmung, in der Bearbeitun­g für zwei Violinen war die alte melancholi­sche Folklorist­ik um ein ungleiches Liebespaar – Türke liebt Armenierin – berührend. Konzert:

„Ich bin sehr stolz auf dieses Orchester.“

 ?? BILD: SN/BORUSAN ?? Uraufführu­ng in Istanbul: von rechts Sascha Goetzel, Dirigent, Daniel Hope und Vadim Repin, Geigensoli­sten, Komponist Mark-Anthony Turnage, BIFO-Orchesterm­itglieder.
BILD: SN/BORUSAN Uraufführu­ng in Istanbul: von rechts Sascha Goetzel, Dirigent, Daniel Hope und Vadim Repin, Geigensoli­sten, Komponist Mark-Anthony Turnage, BIFO-Orchesterm­itglieder.
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