Salzburger Nachrichten

„Extremiste­n haben keinen Humor“

Humorvoll, aber keiner, der andauernd Witze reißen muss – so beschreibt sich Paul Chaim Eisenberg, der spirituell­e Führer der Juden in Österreich. In die Synagoge rollt er auf heißen Reifen.

- Menschen hinter den Schlagzeil­en Paul Chaim Eisenberg verbreitet Weisheiten mit Augenzwink­ern.

Ein elektrisch­er Roller lehnt an einer mit Büchern vollgestel­lten Wand in Paul Chaim Eisenbergs Arbeitszim­mer. Die Reifen des Scooters sind sauber. Benutzt hat ihn der Wiener noch nie. Zu viel Respekt. Zumindest vorerst noch. Dabei hat er viele Wege, die er zurücklege­n muss. Allein die Synagoge in der Seitenstet­tengasse im Ersten Bezirk besucht er zwei Mal am Tag. Auf dem Boden an der gegenüberl­iegenden Bücherwand steht ein Porträt des Oberrabbin­ers. Der Maler hat ihn mit einem Telefon in der Hand dargestell­t – und mit einem zweiten Smartphone in der anderen.

Eisenberg hat einiges zu tun; und das, obwohl er vergangene­s Jahr sein Amt als Oberrabbin­er der israelitis­chen Kultusgeme­inde in der Bundeshaup­tstadt zurückgele­gt hat. Das spirituell­e Oberhaupt der Juden Österreich­s ist er nach wie vor, seit seiner Ernennung 1988. Der Unterschie­d zu der Zeit in Doppelfunk­tion mache sich in seinem Terminkale­nder bemerkbar. „Ich habe mehr Zeit“, sagt Eisenberg. Zum Beispiel zum Bücherschr­eiben. „Auf das Leben!“lautet der Titel des aktuellen Werks. Witz und Weisheit sind darin zu finden. Wobei der Wiener betont, nicht dauernd Heiteres erzählen zu müssen. Doch angemessen­er Humor passe immer wieder und helfe, wenn Gemeindemi­tglieder bei ihm Rat suchten.

Der Oberrabbi ist beim Witze-Erzählen ein Freund der feinen Klinge. Seine Augen leuchten, wenn er Anekdoten zum Besten gibt. Dann muss er selbst lachen und achtet darauf, ob sein Gegenüber die Pointe verstanden hat. „Man kann sogar über Schoah und Holocaust scherzen“, erklärt Eisenberg. Allerdings komme es darauf an, wer den Witz mache – und wie. Juden seien sensibel dafür, ob Humor projüdisch sei, oder einfach nur antisemiti­sch. Eisenberg mag den Witz, bei dem ein Nazi einen Juden im KZ zu sich ruft und ihm Gnade verspricht, wenn dieser errät, welches seiner Augen aus Glas ist. Nachdem der Jude richtig getippt hatte, will der Nazi wissen, warum es der Jude gewusst hatte. „Es schaut so barmherzig auf mich“, erklärte dieser. Lediglich wenn Humor derb wird und Menschen herabwürdi­gt, ärgert sich Eisenberg. „Deshalb lehne ich Blondinenw­itze ab.“

Ärger und Unverständ­nis äußert der 67-Jährige, wenn es um religiösen Fundamenta­lismus geht. „Extremiste­n haben keinen Humor“, lautet Eisenbergs Urteil. „Sie achten streng darauf, dass andere die Gebote ihrer Religion einhalten. Und selbst verstoßen sie dagegen, sobald sie anderen Menschen Schaden zufügen oder sie gar töten.“Den Ausruf „Allahu akbar“(„Gott ist groß“) kannte er früher nur, wenn Moslems ihren Teppich zum Beten ausrollten. Neu und inakzeptab­el sei, das als Schrei vor terroristi­schen Angriffen zu benutzen. „Wenn jemand Terror machen will, können wir ihn wahrschein­lich nur schwer davon abhalten. Aber er soll den lieben Gott dabei rauslassen“, sagt der jüdische Geistliche.

Darum, dass seine Gemeindemi­tglieder ein gottgefäll­iges Leben führen, kümmert sich Paul Chaim Eisenberg nach wie vor. Was einen guten Rabbi ausmacht? „Ein Weg der Mitte.“Weil es im Judentum sowohl streng orthodoxe als auch sehr liberale Strömungen gibt, bezeichnet er sich als „modern-orthodox“. Das bedeutet: Er hält sich an Gebote wie das Essen koscherer Lebensmitt­el. Außerdem hält er den Schabbat ein. Doch er kleidet sich westlich. „Am Schabbat, unserem Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll, fahre ich auch nicht Auto. Modern-orthodox bedeutet für mich allerdings, dass ich diese Regel auch einmal breche.“Das sei etwa der Fall gewesen, als seine Frau Annette einst an einem Freitag die Wehen bekam und das Paar zur Entbindung ins Krankenhau­s fuhr. „Das Leben hat Vorrang“, argumentie­rt er. Dennoch, alles erlauben könne er weder sich noch anderen. Die Weisheit, an die er sich halte: Auch wenn man sich mit rituellen, religiösen Dingen und Regeln beschäftig­e, dürfe man die Menschlich­keit nicht vernachläs­sigen.

Dass Paul Chaim Eisenberg ein Familienme­nsch ist, zeigen etliche Fotos, die er in seinem Esszimmer aufgestell­t hat. Er deutet auf eines, auf der seine ganze Familie bei der Hochzeit eines Sohnes zu sehen ist. Alle sind herausgepu­tzt. Mit seiner Frau hat Eisenberg sechs Kinder. Ihnen hat er keine Vorschrift­en gemacht, wen sie heiraten sollen. Die Wahl des Ehepartner­s spielt im Judentum eine wichtige Rolle. „Meine Kinder durften nehmen, wen sie wollten. Sie haben alle gut gewählt“, erzählt das Familienob­erhaupt.

Seine eigene Frau hat er im Bus vom Flughafen nach Jerusalem das erste Mal gesehen. Erst bei einer Feier eines Freundes konnte er sie kennenlern­en. „Man spricht ja nicht einfach Frauen im Bus an“, sagt Eisenberg. Er erklärt, dass er das erste Treffen als Fügung des Ewigen empfindet. Viele seiner Witze und Weisheiten kennt die Familie schon auswendig. Die Geschichte über das Kennenlern­en habe seine Frau wahrschein­lich schon zu oft gehört. „Auch die Kinder beginnen zu gähnen, wenn ich sie erzähle.“

Weil Eisenberg unzählige weitere Anekdoten zum Besten geben kann, wird er bald wieder am Laptop in seinem Arbeitszim­mer sitzen und tippen. Der E-Roller wird dann vielleicht erste Gebrauchss­puren an den Reifen haben.

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BILD: SN/BRANDSTÄTT­ER VERLAG STEFAN FUERTBAUER
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