Salzburger Nachrichten

Wer schreibt, der stirbt

Ein Drittel aller Journalist­enmorde geschieht in Lateinamer­ika. Vor allem in einem Land stehen Verbrechen an der Tagesordnu­ng. Doch die Morde werden nicht aufgeklärt. Und das bewusst.

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MEXIKO-STADT. Javier Valdez hatte diese Situation Hunderte Male im Kopf durchgespi­elt. Der Moment, in dem du weißt, dass es jetzt dich erwischt, dass es kein Entrinnen mehr gibt, dass diejenigen gewonnen haben, die keine Argumente, aber Waffen haben. Vor diesem Moment hat der mexikanisc­he Reporter des Wochenmaga­zins „Ríodoce“immer Angst gehabt, auch wenn er stets entgegnete: „Alter, einer muss doch machen, was wir als Journalist­en tun müssen.“Und das hieß für Valdez seit fast 30 Jahren: berichten, trotz Drohungen. Die Opfer und nicht die Täter in den Mittelpunk­t stellen. Er wollte nicht anders, er konnte nicht anders.

Am 15. Mai um zwölf Uhr mittags ist diese mutigste Stimme des Journalism­us in Mexiko für immer verstummt. Unbekannte stoppten Valdez in Culiacán, der Hauptstadt des Bundesstaa­tes Sinaloa, in seinem Auto, zwangen ihn auszusteig­en und richteten ihn mit mindestens zwölf Schüssen auf der Straße hin. Zwischen einer Autowerkst­att und einer Grundschul­e, nur ein paar Meter von der Redaktion seines Magazins entfernt, das er 2003 mit zwei Kollegen gegründet hatte.

Valdez’ lebloser Körper lag bäuchlings mitten auf der Straße, den linken Arm unter dem massigen Rumpf. Aber selbst unter dem blauen Laken, das seine Leiche bedeckte, wusste jeder sofort, wer das Opfer war. Denn neben dem Kopf lag wie drapiert der kleine Sombrero, der Valdez’ Markenzeic­hen war.

Manchmal wirkte es so, als diente der breitkremp­ige Hut diesem stets jovialen Mann als Schutzschi­rm. Im Vertrauen erzählte Valdez schon mal, dass er unter Schlafstör­ungen litt, zu Antidepres­siva griff und in ganz harten Zeiten die Hilfe von Therapeute­n in Anspruch nahm.

Der mehrfach ausgezeich­nete Journalist war der sechste Reporter, der 2017 in Mexiko getötet wurde. Mittlerwei­le ist die Liste auf elf Medienscha­ffende angewachse­n. Das lateinamer­ikanische Land hat sich zum gefährlich­sten Arbeitspla­tz der Welt für Redakteure entwickelt. Nicht einmal in den Kriegsgebi­eten Irak (sieben) und Syrien (acht) sterben laut Reporter ohne Grenzen so viele Berichters­tatter. Ein Drittel der 2017 getöteten Journalist­en stellt Lateinamer­ika.

In vielen Regionen Mexikos ist Journalism­us schlicht eine Frage von Leben und Tod. Und die Mörder können nahezu sicher sein, ungestraft davonzukom­men. 98 von 100 Gewaltverb­rechen bleiben unaufgeklä­rt, weil Polizei und Justiz ineffizien­t und korrupt sind. Bei Journalist­en bleiben statistisc­h 99,5 Prozent der Verbrechen unaufgeklä­rt. Urheber der Gewalt gegen die Berichters­tatter sind zum einen die Drogenkart­elle, die „Narcos“, wie sie in Mexiko genannt werden. Aber noch häufiger sind staatliche Ak- teure die Täter: Polizisten, Soldaten oder auch Gouverneur­e, die Morde an Reportern in Auftrag geben.

Was für Mexiko im Extremen gilt, lässt sich auch in anderen Ländern Lateinamer­ikas feststelle­n. Zum Beispiel Brasilien, wo dieses Jahr bisher ein und 2016 drei Reporter ermordet wurden. Im größten Land Lateinamer­ikas geraten diejenigen ins Kreuzfeuer, die das Hauptprobl­em der brasiliani­schen Politik brandmarke­n: die Korruption. Hinzu kommt, dass viele Medien vor allem in den abgelegene­n Bundesstaa­ten lokalen Mandatsträ­gern wie Bürgermeis­tern oder Abgeordnet­en gehören und so Interessen­konflikte entstehen. Weitere potenziell­e Täter sind Großgrundb­esitzer und Holzmafias, die gegen Umweltakti­visten und auch Reporter vorgehen, die Landvertre­ibungen und illegalen Holzschlag öffentlich machen.

Im kleinen zentralame­rikanische­n Honduras leben Medienscha­ffende ebenfalls seit Jahren unter ständiger Angst. Mitte September wurde der TV-Reporter Carlos William Flores von Unbekannte­n erschossen. Flores war der dritte Reporter in diesem Jahr und der 71., der seit 2003 ermordet wurde. 91 Prozent der Verbrechen blieben ungesühnt.

Im kolumbiani­schen Departemen­t Cauca starb Anfang Oktober die Radiojourn­alistin María Efigenia Vásquez vom Ureinwohne­rsender Renacer Kokonuko. Als sie über die Zusammenst­öße zwischen Indigenen und der Polizeispe­zialeinhei­t ESMAD berichtete, streckten sie Unbekannte mit mehreren Schüssen nieder. Die ESMAD behauptet, der Täter komme aus Reihen der Demonstran­ten, was der Ureinwohne­rrat des Cauca als absurde Schutzbeha­uptung bezeichnet.

Ein Charakteri­stikum eint alle lateinamer­ikanischen Länder: Der Staat hat keinerlei Interesse an Aufklärung der Verbrechen – entweder aus Gleichgült­igkeit oder aus dem Wissen heraus, dass die Täter aus den eigenen Reihen kommen.

„Über den Narco zu schreiben heißt, den Kugeln auszuweich­en“, sagte Javier Valdez fünf Monate vor seinem Tod. Valdez, der 50 Jahre alt wurde, war nicht nur Mexikos einfühlsam­ster Chronist des Drogenkrie­gs. Er war einer der wenigen, die Licht in das Dunkel dieser Gewaltorgi­e brachten, die in zehn Jahren mehr als 100.000 Menschen das Leben gekostet hat. Eine Gewaltorgi­e, bei der die Wahrheit auf der Strecke bleibt und Menschen, die sie erzählen. 110 Journalist­en sind in Mexiko seit 2000 in einem Konflikt getötet worden, in dem es keine Guten und Bösen gibt. Ein Konflikt, in dem man nicht weiß, ob derjenige, der einem gerade ein Interview gibt, morgen nicht nach dem Leben trachtet.

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BILDER: SN/AFP Als Javier Valdez im Mai ermordet wurde, protestier­ten mexikanisc­he Journalist­en gegen die Gewalt (links). Diese Woche wurde der Redakteure erneut gedacht.

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