Der Shitstorm darf nicht das Gericht ersetzen
Die Justiz muss Sextäter bestrafen, nicht ein wild gewordener Schwarm von Leuten, die sich in sozialen Netzwerken herumtreiben.
Harvey Weinstein (Filmproduzent), Dustin Hoffman (Schauspieler), Ben Affleck (Schauspieler), George Bush sen. (Ex-US-Präsident), Kevin Spacey (Schauspieler), Michael Fallon (Ex-Verteidigungsminister in Großbritannien) und nun auch Peter Pilz (Politiker) – die Liste ist ziemlich lang, und sie wird sicher noch länger werden, und sie wird Namen aus aller Welt umfassen.
Männer, die ihre Machtposition ausnützen, um sich vor Frauen zu entblößen, sie zu begrapschen, zum Sex zu zwingen oder auch nur unerträglich sexistische Reden zu führen, machen sich schuldig. Sie sollten sich verantworten, vor Gericht und selbstverständlich auch vor der Gesellschaft, auf deren Verehrung oder Zustimmung sie angewiesen sind. All diese Künstler, Politiker oder sonst wie durch ihre Funktionen und Ämter oder auch einfach nur durch Geld in machtvolle Positionen Gekommenen nutzen das Gefälle zwischen reichen, mächtigen, arrivierten Menschen und jungen, abhängigen, am Beginn einer Karriere stehenden Leuten im zwischenmenschlichen Umgang aus, um sich zu holen, was ihnen im Verkehr mit Gleichrangigen fehlt: das Gefühl, einen anderen gegen dessen Willen zu etwas zwingen zu können, was der nicht freiwillig hergibt.
Als Mann muss man auf diese Unholde stinksauer sein. Denn sie, die Idole und Vorbilder sind, werden durch ihre Übergriffe zu negativen Rollenmodellen. Wegen Weinstein und Co. stehen praktisch alle Männer in einem schlechten Licht. In weiten Teilen der Gesellschaft entsteht eine pauschale Einschätzung der Männer als potenzielle Sittenstrolche.
Die Enthüllungen über Weinstein haben eine wahre Lawine weiterer Enthüllungen ausgelöst. Hier beginnt in der derzeit recht aufgeheizten Atmosphäre der Debatten um sexuelle Gewalt und Übergriffe ein Element eine wichtige Rolle zu spielen, das unkontrollierbar und deshalb potenziell sehr gefährlich ist. Die Beschuldigungen werden im Internet blitzartig verbreitet. Ohne Beweisaufnahme. Selbst wer zu Unrecht als Täter beschuldigt wird, hat kaum eine Chance, sich zu wehren. Die Öffentlichkeit, vor allem in den gar nicht so sozialen Medien, fällt ihr Urteil rasch und gnadenlos ohne Gerichtsverfahren. Der Grundsatz „unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils“, vulgo Unschuldsvermutung, wird zur automatischen Gewissheit der Schuld umgedeutet. Wer in diese Lage gerät, hat wenig Hoffnung, sich der öffentlichen sozialen Hinrichtung zu entziehen.
Sextäter müssen verfolgt und bestraft werden. Dafür gibt es Gesetze und eine juristische Vorgehensweise. Wenn aber der Schuldspruch auf Facebook, Twitter oder sonst wo im Netz schon ausreicht, um Existenzen zu ruinieren, dann haben wir Anlass zu großer Sorge.