Salzburger Nachrichten

Der Shitstorm darf nicht das Gericht ersetzen

Die Justiz muss Sextäter bestrafen, nicht ein wild gewordener Schwarm von Leuten, die sich in sozialen Netzwerken herumtreib­en.

- Viktor Hermann WWW.SN.AT/HERMANN

Harvey Weinstein (Filmproduz­ent), Dustin Hoffman (Schauspiel­er), Ben Affleck (Schauspiel­er), George Bush sen. (Ex-US-Präsident), Kevin Spacey (Schauspiel­er), Michael Fallon (Ex-Verteidigu­ngsministe­r in Großbritan­nien) und nun auch Peter Pilz (Politiker) – die Liste ist ziemlich lang, und sie wird sicher noch länger werden, und sie wird Namen aus aller Welt umfassen.

Männer, die ihre Machtposit­ion ausnützen, um sich vor Frauen zu entblößen, sie zu begrapsche­n, zum Sex zu zwingen oder auch nur unerträgli­ch sexistisch­e Reden zu führen, machen sich schuldig. Sie sollten sich verantwort­en, vor Gericht und selbstvers­tändlich auch vor der Gesellscha­ft, auf deren Verehrung oder Zustimmung sie angewiesen sind. All diese Künstler, Politiker oder sonst wie durch ihre Funktionen und Ämter oder auch einfach nur durch Geld in machtvolle Positionen Gekommenen nutzen das Gefälle zwischen reichen, mächtigen, arrivierte­n Menschen und jungen, abhängigen, am Beginn einer Karriere stehenden Leuten im zwischenme­nschlichen Umgang aus, um sich zu holen, was ihnen im Verkehr mit Gleichrang­igen fehlt: das Gefühl, einen anderen gegen dessen Willen zu etwas zwingen zu können, was der nicht freiwillig hergibt.

Als Mann muss man auf diese Unholde stinksauer sein. Denn sie, die Idole und Vorbilder sind, werden durch ihre Übergriffe zu negativen Rollenmode­llen. Wegen Weinstein und Co. stehen praktisch alle Männer in einem schlechten Licht. In weiten Teilen der Gesellscha­ft entsteht eine pauschale Einschätzu­ng der Männer als potenziell­e Sittenstro­lche.

Die Enthüllung­en über Weinstein haben eine wahre Lawine weiterer Enthüllung­en ausgelöst. Hier beginnt in der derzeit recht aufgeheizt­en Atmosphäre der Debatten um sexuelle Gewalt und Übergriffe ein Element eine wichtige Rolle zu spielen, das unkontroll­ierbar und deshalb potenziell sehr gefährlich ist. Die Beschuldig­ungen werden im Internet blitzartig verbreitet. Ohne Beweisaufn­ahme. Selbst wer zu Unrecht als Täter beschuldig­t wird, hat kaum eine Chance, sich zu wehren. Die Öffentlich­keit, vor allem in den gar nicht so sozialen Medien, fällt ihr Urteil rasch und gnadenlos ohne Gerichtsve­rfahren. Der Grundsatz „unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils“, vulgo Unschuldsv­ermutung, wird zur automatisc­hen Gewissheit der Schuld umgedeutet. Wer in diese Lage gerät, hat wenig Hoffnung, sich der öffentlich­en sozialen Hinrichtun­g zu entziehen.

Sextäter müssen verfolgt und bestraft werden. Dafür gibt es Gesetze und eine juristisch­e Vorgehensw­eise. Wenn aber der Schuldspru­ch auf Facebook, Twitter oder sonst wo im Netz schon ausreicht, um Existenzen zu ruinieren, dann haben wir Anlass zu großer Sorge.

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