Frauenbilder in Extremzuständen
Eine einzigartige Reise in weitgehend unentdeckte Opernregionen.
„Falcon-Sopran“, so nennt man den Stimmtyp, der, benannt nach Cornélie Falcon, den besonderen Anforderungen der romantischen französischen Oper am Adäquatesten entspricht: dramatische Ausstrahlung mit dunkler Tiefe und durchschlagskräftiger, intensiv strahlender Höhe. Véronique Gens folgt Falcons Spuren in großartiger Art.
Und so ist ihr neues Album, „Visions“, eine einzigartige Reise in weitgehend unentdeckte Bereiche des Musiktheaters: zwölf Szenen aus Kantaten, Oratorien und Opern, entstanden zwischen 1837 und 1919, kreisend um extravagante Frauengestalten zwischen Fantastik und Mystik, Ekstase und Wahn, Verzückung und Halluzination. Jede dieser Figuren ist auf eigene Weise außer sich, ob in Märtyrerpose oder in religiöser Übersteigerung, verzückten Traumgesichten oder Trugbildern. In jeder Gestalt entsteht nicht zuletzt durch die überragende Vortragskunst der französischen Sängerin und dem auf alle Gemütszustände wach und sensibel reagierenden Münchner Rundfunkorchester unter Hervé Niquet ein individuelles Psychogramm.
Neuerlich war in der editorischen Sichtung und praktischen Einrichtung der Materialien der venezianische Palazzetto Bru Zane federführend. Es ist die Stiftung einer französischen, in der Schweiz lebenden Mäzenin, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, das weitläufige Repertoire der musikalischen französischen Romantik aufarbeiten zu lassen und einem breiten Publikumskreis in mittlerweile europaweit vernetzten Konzerten, Aufführungen, Koproduktionen, CD- und Noteneditionen und fundierten Symposien zugänglich und damit verständlich zu machen.
Man erlebt in diesem „visionären“Album zwar auch bekannte(re) Namen wie Saint-Saëns, Massenet, Halévy oder César Franck (aber mit weitgehend kaum geläufigen Titeln), besonders aber unbekannte Komponisten mit noch unbekannteren Werken: Louis Niedermeyers „Stradella“oder Benjamin Godards „Les Guelfes“, Henry Févriers „Gismonda“oder Félicien Davids „LallaRoukh“.
Energie und Eleganz, Noblesse und Strahlkraft, Innigkeit und Sensibilität vereinen sich dank Véronique Gens’ unverwechselbarer Vokalstilistik zu aufreizenden Charakterstudien, die Stück für Stück neu definieren. Thematisch stecken die Frauenfiguren Gemütszustände von Angst, Zweifel, Unruhe, seelischer Gefährdung, bedingungsloser Hingabe bis zu quasi „himmelschreiender“Ekstase und Exaltation ab, gefasst in so klare wie auch offene Formen wie Romanze und Gebet, reflexive Monologe und raumgreifende Wahnsinnsszenen. Die Freiheit der Gestaltung macht diese CD zu weit mehr als einem Opernkonzert. Man giert danach, das eine oder andere Werk nun auch zur Gänze zu hören . . .